Sechs an einem Tag: Dierk Wolters und sein neuer Roman „Dienstag“
Pause im Alltag: Dierk Wolters im Café Iimori an der Frankfurter Braubachstraße
Was Tolstoi nicht geschrieben hat: Jede Familie hat ihre eigene Art, Geheimnisse voreinander zu haben. Oder sie einander zu offenbaren. Beides führt manchmal zu Unglück, wie beim russischen Schriftsteller. In anderen Fällen lässt es den Familienalltag weniger beschädigt zurück. Von beidem etwas gibt es in „Dienstag“, dem zweiten Roman von Dierk Wolters. Er zeigt Edmund und Anne, ihre beiden Kinder Florian und Amelie sowie Edmunds Vater Hartmut und seine Sekretärin Eva an einem ganz normalen Tag.
Ein Werktag im Juni mit einem Unternehmer, seiner Frau, die als Lehrerin arbeitet, einem Teenagersohn und einer etwas jüngeren Tochter, einer Mitarbeiterin, die für den Chef mehr ist als nur eine Kollegin, und einem Großvater, der im Altersheim viel Hilfe braucht und einen Entschluss fasst. Warum ausgerechnet dieser Tag? „Es sollte der normalste aller Wochentage sein“, sagt Wolters. Alles arbeite, gehe Geschäften nach: „Mittwoch hätte es auch heißen können, Freitag schon nicht mehr.“ Da war Wolters zu viel Wochenende drin.
„Mich interessiert das Alltägliche“, sagt der 1965 geborene Germanist, der, wenn er gerade keine Romane schreibt, als Kulturjournalist in Frankfurt tätig ist. Es geht aber auch um die Spannung von Durchschnitt und Einzigartigkeit, die sich im Alltag verbirgt. Um das, was alle erleben, manchmal gemeinsam, aber auch um die Art, wie jeder anders auf Ereignisse reagiert als andere, weil der einzelne Mensch unwiederholbar ist. „Jeder hat seine eigene Art, mit dem umzugehen, was ein Tag mit sich bringt, von den Kindern bis zum Großvater“, sagt Wolters: „Aber das merken nur sie selbst.“
Der ganz normale Wahnsinn
In Krimis gehe es ihm zu oft um Geschehnisse, die einem im wirklichen Leben kaum passierten, fügt er hinzu: „Viele Bücher reden von Ausnahmesituationen. Aber das ist nicht das Leben, das wir alle führen.“ Umso mehr interessiere es zwar die Leser, aber Wolters findet: „Das Normale ist aufregend, hektisch, durcheinander und chaotisch genug.“ So sei es schließlich üblich, gerade in Familien: „Jeder hat seine eigene Vorstellung vom Tag. Und Probleme und Herausforderungen, mit denen er umgehen muss.“ Als er die Idee zum Roman hatte, ging es ihm selbst so: „In meiner Familie hatte ich damals das Gefühl, dass man eng zusammenlebt, aber jeder seine eigenen Probleme hat.“
Angelegt ist der Tagesablauf des Romans von morgens um 5.52 Uhr, als Hartmut aufwacht, bis abends um 20.06 Uhr, als Edmund einen Anruf entgegennimmt, im ständigen Wechsel unterschiedlicher Bewusstseinsströme. „Um 10.07 Uhr passiert das und das, und dann denkt jemand um 10.23 Uhr etwas, das die Sache ganz anders beleuchtet“, sagt Wolters. Was seine Figuren denken und anderen gegenüber äußern, geht ineinander über, der Unterschied wird grafisch nicht hervorgehoben: „Was man sagt und denkt, beeinflusst sich ja ständig.“ Es sei ein Tag, der sehr durchschnittlich sei, schließt Wolters: „Bis doch etwas passiert.“
Vergnügliches Schreiben
Die Idee, eine ganz normale Familie zu zeigen, „nicht notwendigerweise etwas Hippes mit Patchwork und allen Genderfragen, eher eine Nullachtfünfzehn-Familie“, hat er schon lange mit sich herumgetragen. Erschienen ist der Roman Ende 2023 bei Dielmann, ein knappes Jahr hat das Schreiben neben Wolters’ Beruf gedauert: „Ich habe einen ziemlich glücklichen Familienurlaub in der Bretagne damit verbracht, recht intensiv daran zu schreiben. Es machte Spaß, vorwärtszukommen.“ Überhaupt fand Wolters das Schreiben „sehr vergnüglich“. Obwohl das, was die Familienmitglieder erlebten, für sie schmerzlich und schwierig sei. Als Autor hat man es leichter: „Das alles auseinanderzunehmen und wieder zusammenzufügen hat Spaß gemacht.“ Aus einer gewissen Sicht sei es schließlich auch komisch: „Wie das Familienleben ja überhaupt etwas Komisches hat.“
Mit „Die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage“, Wolters’ erstem Roman, der 2015 bei Weissbooks erschien, dem unglücklich gescheiterten Teilnehmer an einer Quizshow gewidmet, hat der zweite die Anmutung einer Versuchsanordnung gemein: „Das stimmt. Ein bestimmter Bewusstseinszustand, eine unfertige Situation, das hat mich interessiert.“ Dann hat er geschaut, was geschieht: „Am Anfang wusste ich’s auch nicht.“ Es entwickele sich während des Schreibens: „Ich merke, dass eine Figur etwas Bestimmtes denkt, eine andere denkt etwas anderes, und daraus entwickelt sich dann etwas Drittes.“ Als Nächstes plant er ein Sachbuch: „Ich habe für mich Karl Philipp Moritz entdeckt und bin total hin und weg.“ Der Roman „Anton Reiser“, von 1785 an in Berlin erschienen, sei „sehr modern, unkonventionell und klug, was das Hineinschauen in die inneren Prozesse des Menschen betrifft“. Nicht, dass es Wolters davon abhält, es Moritz gleichzutun.
Dienstag, 16. Januar, 20 Uhr, Internationales Theater, Frankfurt