Schwänzen und Schulangst: Immer mehr Schüler bleiben dem Unterricht fern
Schulabsentismus hat auch viel mit der Familie zu tun, oft haben auch die Eltern ein psychisches Problem: Ein Junge sitzt zu Hause auf dem Sofa. Olga Zarytska / Getty
Eine Zahnspange kommt für ihn nicht infrage. Dann würden ihn die Mitschülerinnen noch häufiger auslachen als jetzt, befürchtet der Jugendliche mit den krummen Zähnen. Also bleibt er zu Hause, zuerst stundenweise, dann tageweise. «Irgendwann kam er überhaupt nicht mehr», erzählt der Schulleiter Daniel Finger, «und das trotz enger Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus und pädagogischen Massnahmen.»
Finger leitet seit 22 Jahren Schulen, die letzten 12 Jahre das Oberstufenzentrum Mühlematt im bernischen Belp mit 380 Schülern. Er macht sich grosse Sorgen: «Seit ein paar Jahren fehlen bei uns immer wieder Schüler regelmässig oder über längere Zeit. So etwas gab es früher bei uns nicht», sagt der 58-Jährige.
Inzwischen gehören solche Fälle zum Schulalltag: «In einer Klasse fielen gleich drei Mädchen nacheinander aus. Zwei konnten wir wieder zurückholen. Eines ist derzeit nicht mehr bei uns. Das Verhalten wirkt ansteckend.»
Das Thema beschäftigt die Schule. Kürzlich hat Finger die Elternvertretungen in einem Gespräch darauf aufmerksam gemacht. «Immer mehr Kinder wollen nicht mehr am Unterricht teilnehmen», steht im Sitzungsprotokoll. Als mögliche Gründe werden aufgeführt: «Sozialphobie, Kriegsangst, eventuell Spätfolgen der Corona-Vereinsamung oder unsere Schnelllebigkeit in der Gesellschaft, die junge Menschen unter Druck setzt.»
Mädchen besonders betroffen
Belp ist überall. Landauf, landab berichten Schulen und Behörden von einer Zunahme des sogenannten Schulabsentismus. Gemeint sind sich häufende Absenzen von Schülerinnen und Schülern bis hin zur totalen Schulverweigerung. Wie verbreitet das Phänomen genau ist, weiss niemand, da es statistisch kaum erfasst wird. Ein Trend zum vermehrten Schuleschwänzen lässt sich aber aus der Pisa-Studie herauslesen. Dort gaben 2022 rund 10 Prozent der Schüler an, dass sie in den letzten zwei Wochen vor dem Pisa-Test mindestens einen Tag gefehlt hätten. 2015 hatten bloss 5 Prozent diese Frage bejaht.
Systematisch erhoben wird das Thema in der Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich: Hier haben im Schuljahr 2022/23 rund 10 Prozent der Mädchen und 6 Prozent der Knaben in der zweiten Sekundarklasse mehrmals eine Lektion geschwänzt. Gleich tageweise blieben 7 Prozent der Mädchen und 5 Prozent der Knaben der Schule fern. Die Zahl der betroffenen Mädchen hat sich gegenüber der letzten Befragung, die fünf Jahre zuvor durchgeführt worden war, markant erhöht. Bei den Jungen blieb sie etwa stabil.
Eine andere Zahl liefert der Jahresbericht des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons St. Gallen. Dort weist die Kriseninterventionsgruppe für das Schuljahr 2021/22 total 32 Vorfälle im Zusammenhang mit Schulabsentismus aus, zwei Jahre vorher waren es erst 9 Fälle. Dabei handelt es sich lediglich um die Spitze des Eisbergs.
Das Problem beschäftigt die kantonalen Bildungsdirektionen zunehmend, wie eine Umfrage dieser Zeitung zeigt. Von den 17 Kantonen, die geantwortet haben, melden 14 einen gefühlten Anstieg der Fälle. Mehrere Kantone haben soeben neue Massnahmen wie Weiterbildungen, Sensibilisierungen und neue Merkblätter zum Thema beschlossen.
«Absentismus ist ein Thema, das die Schulen stark umtreibt», sagt Dagmar Rösler, die Präsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. «Es löst viele Emotionen aus und stellt uns alle vor eine grosse Herausforderung.» Die Schulen unternähmen bereits viel, könnten das Problem aber nicht alleine lösen.
Die Mauer hat Lücken erhalten
Was ist los mit den Schülerinnen und Schülern? Für Fachleute stehen zwei Gründe im Zentrum: Ängste und die Nachwirkungen von Corona. Elsbeth Freitag ist Vizedirektorin des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons St. Gallen und leitet eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zum Thema. Betroffene Kinder hätten oft mit Ängsten und Mobbing zu kämpfen, sagt sie. Soziale Netzwerke verstärkten die Situation zusätzlich: Früher beschränkten sich Sticheleien und Ausgrenzungen auf die Zeit vor Ort in der Schule, nun aber gehe es online weiter: «Heute hört es nicht mehr auf, dass man geplagt wird», sagt Freitag. Dazu kämen Leistungsdruck, Prüfungsängste, Zukunftsängste.
Zudem hätten die Schülerinnen und Schüler in der Pandemie erlebt, dass der Schulbesuch nicht sakrosankt sei – zuerst wegen des Lockdowns, dann wegen der Quarantänemassnahmen. «Vor Corona war die Schule eine felsenfeste Mauer, nun hat diese Lücken erhalten», sagt Freitag. «Die Schulpflicht ist nicht mehr so selbstverständlich – auch aus Sicht von systemkritischen Eltern.» Elsbeth Freitag stellt zudem fest, dass sich der Umgang mit schwierigen Situationen geändert hat. «Absentismus ist für einen Teil der Jugendlichen eine Form der Problemlösung geworden.»
Absentismus ist ein weiter Begriff, der von gelegentlichem Fernbleiben bis hin zur totalen Schulverweigerung reicht. Laut Fachleuten gehört Schwänzen als bewusstes, meist kurzes Aufbegehren gegen Autoritäten zum Heranwachsen vieler Jugendlicher und ist keine neue Erscheinung. Doch wenn es regelmässig, früh und gehäuft auftritt, kann es auf eine problematische Entwicklung hinweisen.
Von Schulverweigerung spricht man dann, wenn Kinder oder Jugendliche mit dem Wissen der Eltern nicht mehr zur Schule gehen. «Spätestens wenn es drei nicht zusammenhängende Absenzen innert sechs Wochen gibt, sollte die Schule reagieren. Dann muss man das Diffuse auf den Tisch bringen», sagt Freitag. Massnahmen müssten gut koordiniert werden, Fachstellen, Schule und Eltern eng zusammenarbeiten.
Eltern in der Pflicht
Die steigende Zahl der Fälle von Absentismus spürt auch das Ambulatorium für Schul- und Ausbildungsprobleme (Asap) der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern. Dort werden Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten im Schulumfeld behandelt, etwa mit Angststörungen, Lern- und Anpassungsschwierigkeiten. Der Andrang ist gross: Die 21 Plätze sind besetzt, 22 Patienten stehen auf der Warteliste und müssen bis zu vier Monate auf ihre Behandlung warten. «Wir sind mit unseren Kapazitäten an die Grenzen gelangt», sagt die Asap-Leiterin Jana Bryjová.
Sie verweist auf Studien und Befragungen, die generell eine starke Zunahme von psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen zeigen. «Neun von zehn der von Absentismus betroffenen Schüler leiden auch unter einer psychischen Störung», sagt Bryjová. Auch die Zürcher Gesundheitsstudie hat gezeigt, dass Schüler, welche Anzeichen einer psychischen Beeinträchtigung haben, «signifikant erhöhte Anteile beim Absentismus» aufwiesen – vor allem die Mädchen.
Rund ein Viertel der Patientinnen und Patienten im Asap werden explizit wegen Schulabsentismus angemeldet. «Es sind meist verschiedene Faktoren, die zusammenspielen», sagt Bryjová. Sie nennt als Beispiel eine Jugendliche mit Loyalitätskonflikten zwischen den geschiedenen Eltern, die gleichzeitig an einer Angststörung leidet, von Mitschülern gemobbt wird und deren Klassenlehrpersonen mehrmals gewechselt haben. «Die Betroffene schafft sich kurzfristig Erleichterung, indem sie zu Hause bleibt, macht damit aber das Problem langfristig noch grösser.»
Schulabsentismus hat viel mit der Familie zu tun. Die Forschung zeigt, dass sich bei rund drei Viertel der chronisch absenten Schüler entweder die Mutter oder der Vater in psychiatrischer Behandlung befindet. Weitere belastende Faktoren sind: Armut in der Familie, häufiger Wohnortwechsel, Arbeitslosigkeit der Eltern, Gewalt und Streit unter den Eltern.
Aber auch ungünstige schulische Bedingungen wie Unterforderung, Überforderung, grosse Klassen oder häufige Lehrerwechsel können Schulabsentismus fördern. Jana Bryjová sieht einen Treiber des Problems ebenfalls in den sozialen Netzwerken: «Sie können Mobbing verstärken und den Jugendlichen den Schlaf rauben.» Zudem habe die Corona-Pandemie viele familiäre und soziale Probleme verschärft.
Auch in Belp sucht Daniel Finger nach Erklärungen für den zunehmenden Absentismus. Nebst externen Faktoren ortet er Probleme im Verhalten der Schülerinnen und Schüler selber. «Die Gesellschaft wird generell weicher, das Durchhaltevermögen hat abgenommen», sagt der Schulleiter. Das spiegle sich auch im Umgang von Eltern mit ihren Kindern: «Sie haben nicht mehr die konsequente Erwartungshaltung, setzen sich weniger durch.»
Wenn ein Schüler oder eine Schülerin nicht mehr zur Schule kommen wolle, sei es «matchentscheidend», so schnell wie möglich zu reagieren, sagt er. Es braucht Gespräche mit dem Jugendlichen, den Eltern, der Lehrperson und der Schulsozialarbeiterin. Zudem seien Fachstellen rechtzeitig mit einzubeziehen. «Wenn ein Jugendlicher zu lange weg von der Schule ist, dann ist er weg vom Fenster.» Oft versuche man darum in Belp, das Wochenprogramm so anzupassen und zu reduzieren, dass es für ihn noch machbar ist, sagt Finger: «Mir ist es lieber, er kommt nur die Hälfte der Zeit, als dass er gar nicht mehr kommt.»