Real beißt den FC Bayern zweimal: Wie ein lethargischer Löwe in der Steppensonne
Der FC Bayern spielt groß auf gegen Real Madrid, dreht das erste Halbfinale der Champions League nach Rückstand, um am Ende doch nicht als Sieger vom Platz zu gehen. Das hat mit zwei eigenen Fehlern zu tun, aber auch mit einem Gegner, der einfach gnadenlos ist.
Gab in München das Tempo bei den Königlichen vor: Toni Kroos.
Toni Kroos kam in Badelatschen. Und so entspannt, wie der Nationalspieler zum Interview bei Amazon Prime schlenderte, so unbeeindruckt schien er von dem, was sich wenig zuvor über 90 Minuten auf dem Feld der Allianz Arena zugetragen hatte. Der FC Bayern, für den Kroos einst selbst spielte, hatte sich zu einer großen Leistung aufgeschwungen. Der FC Bayern war losgestürmt, immer und immer wieder angerannt, erzielte zwei Tore und ließ noch mehrere Gelegenheiten ungenutzt. Bedeutet: Es wäre mehr möglich gewesen im ersten von zwei Halbfinal-Duellen in der Champions League mit Real Madrid, für das Kroos seit langer Zeit spielt. 2:2 stand es nämlich nach den ersten 90 Minuten. Und jeder wusste warum: Weil Real eben Real ist.
Und weil Kroos eben Kroos ist. Nach 24 Minuten erspähte der Stratege einen kleinen, freien Raum. Er sah, dass sein Stürmer Vinicius Junior den Münchner Abwehrmann Min-jae Kim aus der letzten Reihe gezogen hatte und dem Südkoreaner fortan davon sprintete. Kroos richtete den Blick nur auf diese Szene, ihn interessierte nicht einen My, was um ihn herum passiert. Auf den Ball musste er eh nicht schauen, der gehorcht ihm einfach. Und als alles perfekt war, der Raum offen und der Brasilianer im höchsten Tempo unterwegs, dann spielte Kroos den “stratosphärischen” (so die “Marca”) Pass. So einfach, so genial. Vinicius Junior vollendete ohne große Mühe.
“Ich weiß natürlich, dass Vini den Ball lieber in den Raum hat als in den Fuß”, sagte Kroos bei Amazon Prime Video über das 1:0 für seine Madrilen. “Dann macht er die Bewegung. Er macht mir den Pass eigentlich einfach mit seinem Laufweg.” Hernach kannte die Begeisterung für den Pass keine Grenzen. “Min-jae Kim (Anmerk. d. Red.: Bayerns fehlerhafter Innenverteidiger) war ein Sieb. Wahnsinn, der Steckpass von Kroos”, staunte die “AS”. Und “Kroos, Genie”, schrieb etwa die Madrider Zeitung “Marca” bei X. Vinicius Junior feierte ihn als “Legende”, Antonio Rüdiger huldigte “El Patron”, Joselu dem “Maestro” und Real-Ikone Sergio Ramos “Don Antonio”, den er im Netz mit Zylinder und Zauberstab ausstattete. Kumpel Thomas Müller meinte augenzwinkernd: “So offen wie die Lücke war, war der Pass technisch nicht hoch kompliziert.” Aber klar, Kroos “hat den Raum gut gesehen und den Ball super temperiert reingespielt”.
Nicht zu stoppen, obwohl alles bekannt ist
In den Interviews nach dem Spiel fiel ein Satz, der sich immer wiederholte: Real ist Real. Diese Mannschaft hat ein unerklärliches Gottvertrauen in die Dinge auf dem Rasen. In den ersten knapp 20 Minuten bekamen Kroos und seine Kollegen keinen Zugriff auf die Partie. Na und? Eine bayrische Welle nach der anderen knallte auf die Madrilenen. Na und? Und dann, zack, lagen die Münchner hinten. Wohl kaum ein Team in Europa ist besser in der Lage, Fehler so gnadenlos zu bestrafen, wie das Real-Ensemble um den unerschütterlichen Carlo Ancelotti. Wie ein Löwe in der Steppensonne lauert Madrid auf Beute, manchmal lethargisch, doch dann der Sprung, der Biss. Die Zeitung “La Vanguardia” urteilte: “Das Real Madrid mit den tausend Leben behält die Nerven.”
Thomas Tuchel, der Noch-Trainer des FC Bayern, hatte das alles vorhergesehen. Vergangene Woche, bei der Medienrunde vor dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt in der Fußball-Bundesliga, hatte er davor gewarnt, dass man nie vorhersagen kann, wann die Königlichen zustechen. “Wenn man sich Tore und große Torchancen von Real Madrid anschaut und sich die Mühe macht, zehn Sekunden vorher auf die Stopptaste zu drücken – sie sehen es nicht kommen”, staunte Tuchel. Diese Überfälle werden lanciert von Kroos oder auch von Jude Bellingham, der an diesem Dienstag aber keinen guten Abend erwischt hatte. Und sie werden vollendet über den kaum zu stoppenden Vinicus Junior. Oder auch über Rodrygo, der den Elfmeter zum 2:2 herausgeholt hatte.
Bayern Münchens Mittelfeldspieler Konrad Laimer befand später: “Es ist Real Madrid. Sie machen das Spiel ein bisschen langsam, aber können dann immer wieder anziehen und gefährlich werden. Das sind alles unglaubliche Spieler mit einer unheimlichen Ruhe, die in einem einzigen Moment ein Tor erzielen können.” Und alles läuft in diesen Phasen über Kroos, die letzte Stammkraft des einst so großen Trios um Luka Modrić, der dieses Mal spät eingewechselt worden war und einen fantastischen Pass in den Lauf des ewig umtriebigen Vinicius Junior lupfte (der dann aber Manuel Neuer aus spitzem Winkel scheiterte), und Casemiro, der längst zu Manchester United weitergezogen ist. Unumstößlich steht Kroos im Zentrum, mit der Entspanntheit eines Flip-Flop-Dirigenten, und wacht über die Dinge. Wacht darüber, dass sie nicht aus dem Ruder laufen.
Klassenlehrer “Kroos stellt sie alle auf”
In Deutschland blieben die großen Qualitäten des Strategen oft unter dem Radar. Über den zweifelhaften Ruf des “Querpass”-Toni ist er längst hinweg und hat sein Heimatland mit seinem Comeback bei den Länderspielen im März verzaubert. Dass aus der traurigen Fußballnation Deutschland plötzlich wieder ein Kandidat erwachsen ist, der beim Heim-Turnier Großes vollbringen kann, das liegt auch oder vor allem an “Steilpass”-Kroos, wie man ihn mittlerweile umgetauft hat. Auch so etwas, dass den Dauerniedrigpuls des gebürtigen Greifswalders nicht in die Höhe schnellen lässt. “Ach! Weder hat mich der Name davor gestört, noch mache ich jetzt Luftsprünge.”
In Spanien dagegen sind sie seit jeher (meistens zumindest) hin und weg vom 34-Jährigen und dessen eiskalter Genialität. So schwärmte die “El Mundo” aus Madrid nach der Nacht von München: “Kroos ordnete seine Spieler und sogar die Gegner wie ein Lehrer, der einen Klassenraum betritt. Kein unkontrolliertes Herumrennen mehr, kein Papierkram. Jeder an seinem Platz. Kroos stellte sie alle auf. Sein Mitspieler mit Ball, seine Gegner ohne Ball. Er sorgte für das Gleichgewicht, das Madrid in einer chaotischen Anfangsphase brauchte.” Er verwahrte den Ball “wie in einem Safe” (ABC) und gab den Kollegen Vertrauen. Unglaubliche 82 seiner 85 Pässe fanden ihr Ziel.
Nicht ganz so glücklich war Ancelotti mit dem Auftritt, aber auch den Maestro bringt ein 2:2 in München nicht aus der Ruhe: “Es war kein besonderes Spiel, aber es gibt uns Mut und Selbstvertrauen für das Rückspiel.” Der Coach haderte besonders mit der Intensität im Spiel, forderte mehr Kampf und Kraft, wie im Viertelfinale gegen das phasenweise drückend überlegende Manchester City. “Die Bayern”, urteilte Ancelotti, “haben sich von ihrer besten Seite gezeigt und ich glaube nicht, dass wir das getan haben, aber wir haben nächsten Mittwoch die Möglichkeit, es zu zeigen.” Und Kroos befand: “Zur Halbzeit hätte ich das 2:2 ungerne genommen, zehn Minuten vor Schluss natürlich sehr gern. Ich glaube, es ist einigermaßen leistungsgerecht und wir sind überzeugt, dass wir zuhause weiterkommen.” Wenig später schlenderte er davon, ganz gelassen, in seinen Badelatschen.