Nord gegen Süd: Wer bekommt den billigeren Strom?
Windpark an der Nordseeküste in Schleswig-Holstein.
Der vergangene Donnerstag war einer dieser seltsamen Tage, an denen wieder mal deutlich wurde, dass im deutschen Strommarkt einiges schiefläuft. Schon am Mittwochabend hatte der baden-württembergische Netzbetreiber Transnet BW die Bürger im Südwesten der Republik zum Energiesparen aufgerufen, um das Stromnetz zu entlasten: Wer könne, der solle am Donnerstag zwischen 10 und 13 Uhr möglichst wenig Strom verbrauchen, so die Botschaft, die das Energieunternehmen über eine dafür eigens angebotene Warn-App verbreitete. Am besten also vormittags Waschmaschine, Trockner und Spülmaschine ausgeschaltet lassen. Solche Stromspar-Aufrufe gab es von Transnet BW in den vergangenen anderthalb Jahren elfmal. Es besteht dann zwar laut Unternehmen keine Blackout-Gefahr im Stromnetz, aber doch eine angespannte Situation.
Über die Begründung für den Sparappell dürften sich viele Bürger allerdings gewundert haben: Im Norden Deutschlands werde aktuell viel Windstrom erzeugt, der zu einer zu starken Auslastung der Stromleitungen in den Süden führte, teilte Transnet BW mit. Wenn das Wetter ideal ist für die Erzeugung von Windstrom, warum ist es dann geboten, dass die Bürger beim Stromverbrauch kürzertreten?
Mehr noch: An Tagen, an denen der Strom knapp ist, sollte er eigentlich viel kosten. Schließlich spiegelt der Preis in funktionierenden Märkten das Verhältnis von Angebot und Nachfrage wider. Tatsächlich aber lag am Donnerstag der deutsche Börsenstrompreis, zu dem Großverbraucher auch im Südwesten des Landes kaufen können, am zeitweise nahe Null. Sparaufrufe wegen Stromknappheit und Minipreise, wie passt das zusammen?
„Extreme Stromüberschüsse“ im Norden
Wenn Tobias Goldschmidt versucht zu erklären, warum er den deutschen Strommarkt für grundlegend reformbedürftig hält, dann schildert er Beispiele wie das von der Stromspar-Warn-App in Baden-Württemberg. Der Grünen-Politiker ist Energieminister in Schleswig-Holstein. Nirgendwo sonst in Deutschland ist der Ausbau der Windkraft in den vergangenen Jahren so zügig vorangegangen wie hier. An windreichen Tagen wird in Goldschmidts Bundesland klimaschonende Energie in Hülle und Fülle erzeugt. Aktuell benötige Schleswig-Holstein in Spitzenzeiten 2 Gigawatt Strom. Bis 2030 soll allein die Onshore-Windkraft in Schleswig-Holstein 15 Gigawatt liefern, rechnet Goldschmidt vor. „In windreichen Phasen haben wir extreme Stromüberschüsse“, sagt er der F.A.S.
Die zeitweiligen Stromschwemmen im Norden führen allerdings zu wachsenden Problemen weiter südlich. Denn der Ausbau des bundesweiten Stromnetzes hält mit dem Zubau der erneuerbaren Energieträger nicht Schritt. An stürmischen Tagen gibt es im Norden so viel Windenergie, dass das zur Verfügung stehende Netz nicht ausreicht, um all den Strom in die Gebiete mit hohem Verbrauch im Süden und Westen Deutschlands zu leiten. „In vielen Situationen bekommen wir den Strom einfach nicht weg“, sagt Goldschmidt.
Damit das Netz nicht überlastet wird, müssen dann in Norddeutschland Windräder trotz bester Wetterbedingungen abgeschaltet werden. Fachleute nennen diese Verschwendung von grüner Energie „Redispatch“. In Süddeutschland müssen in solchen Situationen zum Ausgleich andere Kraftwerke einspringen, und zwar häufig klimaschädliche Gas- und Kohlekraftwerke. Oder es muss Strom im Ausland zugekauft werden.
Vor 20 Jahren war der „Redispatch“ im deutschen Stromnetz noch eine Seltenheit. Heute kommen solche Eingriffe bei Transnet BW nahezu täglich vor. Aber das ist teuer, denn den Kraftwerksbetreibern stehen für die erzwungenen Planänderungen Entschädigungen zu. 3,1 Milliarden Euro kosteten diese Maßnahmen 2023, die Kosten wurden als Bestandteil des Strompreises auf die deutschen Verbraucher umgelegt. 19 Terawattstunden Strom gingen wegen der Netzengpässe verloren. Das entsprach fast 4 Prozent der gesamten deutschen Stromerzeugung.
Wird der deutsche Strommarkt aufgeteilt?
Umfang und Kosten des Engpassmanagements im Stromnetz steigen seit Jahren. Und es ist zu befürchten, dass das so weitergeht. Denn der starke Ausbau von wetterabhängiger Windkraft und Photovoltaik im Zuge der Energiewende führt zu größeren Schwankungen in der Stromerzeugung als in der Vergangenheit. Auch der Stromverbrauch wird in Zukunft voraussichtlich stärker schwanken als bisher. Dazu trägt die wachsende Zahl von Batteriespeichern, E-Autos und Wärmepumpen bei.
Was also tun? Der schleswig-holsteinische Energieminister Goldschmidt zählt zu den Befürwortern einer radikalen Lösung: Bislang gibt es einen einheitlichen Strommarkt in ganz Deutschland, zwischen Kiel und Konstanz gilt für Großkunden derselbe Börsenstrompreis. Norddeutsche Politiker wie Goldschmidt, aber auch viele Energieökonomen plädieren nun dafür, Deutschland in eine nördliche und eine südliche Preiszone aufzuteilen.
„Der heutige gesamtdeutsche Börsenstrompreis lässt zu, dass sich Teilnehmer am Strommarkt keinerlei Gedanken um Fragen der Lieferbarkeit machen müssen. Das gibt es in keiner anderen Branche“, sagt Goldschmidt. „Die Strompreise müssen abbilden, was im Netz los ist. Sonst fliegt uns das Stromsystem auseinander, weil den großen Verbrauchern Signale über die tatsächlichen Knappheiten innerhalb Deutschlands fehlen.“
Ähnlich sieht das der Energieexperte Andreas Löschel von der Ruhr-Universität in Bochum. „Wir brauchen bessere Preissignale als heute“, sagt er. „Eine Aufteilung in unterschiedliche Strompreiszonen wäre eine Möglichkeit, das zu erreichen.“
Die Idee dahinter: In einem aufgeteilten Strommarkt wäre zu erwarten, dass in der nördlichen Preiszone, wo viel Windkraft erzeugt wird, der Strompreis im Schnitt niedriger ist als in der Südzone, wo es weniger erneuerbaren Strom und größere Verbrauchszentren gibt. Ein höherer Strompreis im Süden, so die Hoffnung der Aufteilungs-Befürworter, könnte einen wichtigen wirtschaftlichen Anreiz setzen, dort mehr neue Windräder zu bauen. Denn diese versprechen bei höheren Preisen mehr Rendite. Bisher zählen Bayern und Baden-Württemberg zu den Schlusslichtern beim Windkraft-Ausbau.
„Dagegen werden wir mit aller Macht kämpfen“
Umgekehrt würde der Norden Deutschlands tendenziell mehr vom erzeugten Windstrom selbst verbrauchen, denn die im Vergleich zum Süden niedrigeren Strompreise dürften Unternehmen aus Branchen mit hohem Strombedarf anlocken. Die Herstellung von Batteriezellen für E-Autos etwa braucht viel Strom. Ist es da nicht sinnvoller, die Fabriken dafür dort zu bauen, wo es viel grünen Strom gibt, statt ihn über Hunderte von Kilometern nach Süden zu leiten, um in Schwaben oder Bayern eine solche Fabrik zu betreiben? Auch Elektrolyseure zur Erzeugung von klimaschonendem grünem Wasserstoff, die viel erneuerbaren Strom benötigen, könnten dann vor allem im Norden installiert werden. Sie könnten zu flexiblen Stromverbrauchern werden und vor allem in Zeiten produzieren, an denen viel Windstrom erzeugt wird.
Beide Effekte einer Strommarkt-Aufteilung – mehr Verbrauch im Norden und mehr Erzeugung im Süden – könnten die bisherigen regionalen Ungleichgewichte im deutschen Strommarkt verringern. Der Bedarf an teuren und ineffizienten Eingriffen zur Stabilisierung der Stromversorgung würde sinken. „Der Redispatch-Aufwand ließe sich durch unterschiedliche Preiszonen voraussichtlich stark senken“, erwartet etwa der Energieökonom Löschel. Auch der Bedarf an Stromtrassen von Nord nach Süd, deren Bau viel Geld kostet, dürfte dann geringer ausfallen.
Was theoretisch einleuchtend klingt, ist im deutschen Föderalismus allerdings politischer Sprengstoff. Die südlichen Bundesländer fürchten um ihre Wettbewerbsfähigkeit, wenn der Norden auf einmal mit günstigeren Strompreisen locken sollte. „Dagegen werden wir mit aller Macht kämpfen“, watschte vergangenes Jahr Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann seinen norddeutschen Parteifreund Goldschmidt ab. Auch die Landesregierungen in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland sind dagegen.
„Eine Aufteilung in unterschiedliche Preiszonen wäre nicht nur für Bayern, sondern für Deutschland insgesamt nachteilig“, sagt etwa der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger der F.A.S. Schon die Debatte darüber verunsichere Investoren in der Wirtschaft. „Je größer die Preiszone, desto günstiger ist der Strom für alle, weil größere Mengen gehandelt werden und der Wettbewerb stärker ist“, gibt Aiwanger zu bedenken. Ähnlich argumentiert auch die Leipziger Strombörse EEX, die eine Aufteilung ebenfalls ablehnt.
Die Nordländer halten dagegen. Es gebe heute „inakzeptable Ungerechtigkeiten bei den Strompreisen in Deutschland“, sagt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) gegenüber der F.A.S. „In einer Marktwirtschaft sollten Strompreise dort niedriger sein, wo viel Strom produziert wird und angeboten wird.“ Derzeit dagegen ist es nicht selten umgekehrt. Denn im Norden sind die sogenannten Netzentgelte, die Stromkunden bezahlen müssen, häufig besonders hoch. Der Grund: In Norddeutschland gehen eben besonders viele neue Windräder in Betrieb, und die Kosten für deren Anschluss ans Netz werden von den Verbrauchern an Ort und Stelle getragen. „Regionen, die die Energiewende vorantreiben, werden bestraft“, ärgert sich der Ministerpräsident in Kiel.
Die EU macht Druck
Die schwelende Debatte um eine Teilung des deutschen Strommarkts ist mehr als nur ein Gedankenspiel. Denn der Status quo ist nicht nur norddeutschen Landespolitikern, sondern auch der Europäischen Kommission ein Dorn im Auge. Die EU-Energieregulierungsbehörde ACER beauftragte 2022 die Stromnetzbetreiber damit, die Auswirkungen einer Aufteilung des deutschen Strommarkts auszuloten. Eine der untersuchten Varianten sieht eine Zweiteilung grob entlang der Landesgrenzen fest: Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Berlin und die ostdeutschen Bundesländer würden eine Nordzone bilden, die anderen Länder eine Südzone. Alternativ wird auch eine Aufteilung Deutschlands in drei oder sogar vier Strompreiszonen geprüft.
Mit dem Ergebnis der Analyse wird, nach einigen Verzögerungen, bis Jahresende gerechnet. Danach muss sich die Bundesregierung in Berlin damit befassen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und sein grüner Wirtschaftsminister Robert Habeck zeigen bislang wenig Neigung, das heiße Eisen einer Strommarkt-Aufteilung anzufassen. Auch Netzbetreiber wie Transnet BW plädieren für die Beibehaltung des Status quo.
In Deutschland werde so getan, als sei das eine Debatte zwischen verschiedenen Bundesländern, sagt Bernd Weber, der Direktor der Berliner Energiemarkt-Denkfabrik Epico: „Aber tatsächlich ist das eine europäische Frage. Und am Ende könnte durchaus die EU-Kommission entscheiden.“ Die Netzengpässe in Deutschland belasten nämlich auch die Nachbarn, weil deutscher Strom teilweise über den Umweg durch ausländische Netze von Nord- nach Süddeutschland geleitet werden muss. Deshalb muss sich die Bundesregierung bei der laufenden Strommarkt-Prüfung auch mit den Nachbarländern abstimmen.
In Europa gibt es einen Präzedenzfall für die Aufteilung von Strommärkten: 2011 verfügte die EU-Kommission eine Trennung und Aufteilung des schwedischen Netzes in zwei Preiszonen.
Die Unterschiede dort sind heute erheblich. 2023 lag der Börsenstrompreis in Südschweden im Schnitt um mehr als 60 Prozent über dem im Norden. Unternehmen mit hohem Strombedarf wie der Batteriezellenhersteller Northvolt haben nicht zuletzt wegen des günstigen Strompreises kräftig in Nordschweden investiert.
Dass das Strompreisgefälle zwischen Süd- und Norddeutschland ähnlich stark ausfallen würde wie in Schweden, halten Fachleute für unwahrscheinlich. Aber um bis zu ein Viertel könnte im Extremfall der Strom an der Nordsee dann günstiger als am Alpenrand sein. Das ergab jedenfalls eine Simulationsrechnung des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität zu Köln (EWI) und des skandinavischen Beratungsunternehmens Thema. Andere Studien prognostizieren deutlich niedrigere Preisunterschiede im Falle einer Teilung.
„BMW wird wegen niedriger Strompreise nicht nach Norddeutschland umziehen und sich in Bremer Motorenwerke umtaufen“, scherzt der Energieexperte Weber vom Beratungshaus Epico. „Aber ein Standortvorteil im Wettbewerb um Unternehmensinvestitionen wäre es schon für den Norden.“