F.A.Z.-Leserkongress: Steinmeier geißelt „verantwortungslosen und hemmungslosen Populismus“
„Wir werden auch in Zukunft vieles gemeinsam bestehen“: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht auf dem F.A.Z. Kongress.
Der Bundespräsident ist nach Frankfurt gekommen, um den Leserkongress der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einem besonderen Jahr zu eröffnen: Im November ist es 75 Jahre her, dass die erste Ausgabe der F.A.Z. erschien. Frank-Walter Steinmeier muss von den vielen Hunderten im Kongresszentrum „Kap Europa“ versammelten Lesern und den vier Herausgebern der F.A.Z. aber keine Widerworte befürchten, als er einen anderen 75. Geburtstag als „das wichtigste deutsche Jubiläum dieses Jahres“ bezeichnet: den des Grundgesetzes. Und damit den Geburtstag der Bundesrepublik, über die F.A.Z.-Herausgeber Jürgen Kaube in seiner Begrüßung festgehalten hatte: „Wir halten dieses Land für eine gute Sache.“
Steinmeier führt aus: „Gründungsjubiläen feiern wir, weil in der Vergangenheit etwas grundgelegt wurde, was sich als tragfähig und haltbar erwiesen hat. So erscheint es möglich und richtig, weiter darauf zu bauen.“ Und damit ist er sofort beim diesjährigen Kongress-Motto „Zukunft gestalten“. Dass das keine Kleinigkeit ist „in dieser Zeit großen Herausforderungen“, macht Steinmeier deutlich. Den Extremismus hat er als die größte Bewährungsprobe der Gegenwart identifiziert, die Unwahrheit als „das vielleicht gefährlichste Gift für unsere Demokratie“. Auch das Grundgesetz müsse womöglich „nachgebessert“ werden, sagt der Bundespräsident und fragt: „Wo gibt es eventuell Desiderate einer Weiterentwicklung?“ Vor allem appelliert Steinmeier aber an die Deutschen, nicht zu verzagen. Auch in der Vergangenheit habe das Land viele „Herausforderungen angenommen und bestanden“.
Geht es uns womöglich zu gut? F.A.Z.-Herausgeber Berthold Kohler im Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Die Freiheit, das kostbarste irdische Gut
Das Selbstvertrauen, große Hürden überwinden und etwas Bleibendes aufbauen zu können, kennzeichnete vor 75 Jahren die Redaktion, die im Leitartikel der ersten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darlegte, was sie vorhatte. Der Bundespräsident zitiert daraus ausführlich und muss sich nicht verrenken, um den darin formulierten Anspruch in die Aktualität zu übertragen. „Wir möchten“, so hieß es am 1. November 1949, „in einer Zeit, in der die Freiheit keineswegs allein durch die Diktatoren, sondern ebenso durch Vermassung, durch Trägheit und Unduldsamkeit bedroht ist, das lebendige Gefühl für dieses kostbarste aller irdischen Güter entfachen.“
Über die Diktatoren, die „von außen unsere Freiheit“ bedrohen, muss der Bundespräsident nicht viel mehr sagen, als daran zu erinnern, dass die Bedrohung auch und gerade heute besteht. Im Wort „Vermassung“ erkennt er das zeitgenössische Phänomen eines „verantwortungslosen und hemmungslosen Populismus, der immer mehr – und viele wollen das nicht wahrhaben – in eine Radikalisierung und in einen demokratie- und freiheitsfeindlichen Extremismus übergeht“. Die vor 75 Jahren im Leitartikel als Gegner benannte „Trägheit“ erkennt Steinmeier in der „heute allzu selbstverständlichen Gewöhnung an unsere bequem gewordene Lebensweise“, für deren Fortbestand der Einzelne „am liebsten immer andere haftbar“ machen würde. Schließlich die 1949 diagnostizierte „Unduldsamkeit“: Der Bundespräsident kritisiert „die allzeit sprungbereite Aggressivität in unseren gesellschaftlichen Konflikten“ und plädiert für mehr Gelassenheit sowie Kompromissbereitschaft.
Bis heute ist die F.A.Z. auch einem Anspruch verpflichtet, der auf Seite 1 der ersten Ausgabe so formuliert wurde: „Für die neue Art Zeitung, die wir schaffen möchten, müßte die Wahrheit der Tatsachen heilig sein; sie müßte sich der strengen Sachlichkeit der Berichterstattung befleißigen; sie müßte auch den Andersmeinenden gegenüber immer Gerechtigkeit walten lassen“. Der Bundespräsident weist 75 Jahre später darauf hin, dass die „strenge Sachlichkeit“ ein wichtiges, aber nicht immer leicht erreichbares Ziel sei – und das nicht nur im Journalismus. „Nichts ist aktueller als diese Forderung an die Medien, aber auch an alle Beteiligten am gesellschaftlichen Diskurs: bei der Wahrheit der Tatsachen zu bleiben, soweit sie bei bestem Bemühen zugänglich ist“. Heute aber sei es so, dass „immer mehr Halb- und Viertelwahrheiten, bewusste Verdrehungen und dreiste Lügen versuchen, unsere Urteilskraft zu manipulieren“. Steinmeier spricht von Fake News und Trollfabriken und resümiert: „Mehr denn je brauchen wir verlässliche und der Demokratie verpflichtete Qualitätsmedien.“
Noch nicht in amerikanischen Verhältnissen
Als oberster Repräsentant der Bundesrepublik staunt Steinmeier ein wenig über die „Anmaßung“ der Zeitungsgründer, die sich gleich zu Beginn des Wagnis F.A.Z. auch als „Stimme Deutschlands in der Welt“ empfohlen hatten, gleichsam als Ersatz für den Außenminister, den die Bundesrepublik damals noch nicht hatte – einerseits. Andererseits trägt die Überlegung den einstigen Außenminister Steinmeier zu der Schlussfolgerung, dass eben nicht nur staatliche Institutionen von der Bundesregierung bis zur Polizei Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen hätten, sondern dass Deutschland auf viele andere „Institutionen“ angewiesen sei. Der Bundespräsident nennt die F.A.Z. und andere Medienhäuser, und, da er in Frankfurt ist, als weitere Beispiele die Deutsche Bank, den Deutschen Fußball-Bund sowie die Buchverlage, die sich hier alljährlich zur Frankfurter Buchmesse versammeln. Was passiert, wenn Institutionen in Krisen rutschen, die „unseren Stolz auf unser Gemeinwesen mit begründet und erhalten“ haben, belegt Steinmeier ebenfalls mit Beispielen. Er nennt die Deutsche Bahn und den Kundendienst der Deutschen Telekom.
Steinmeier mahnt: „Demokratie und Freiheit sind nie ein für allemal erreicht. Sie waren es 1949 nicht – und sie sind auch 2024 nicht garantiert.“ Im Gespräch mit F.A.Z.-Herausgeber Berthold Kohler verweist Steinmeier auf die populistischen Wellen in anderen europäischen Ländern, vor allem aber in den USA. Die Deutschen hätten zu lange zu überheblich auf die Polarisierung und Radikalisierung in Amerika geschaut, und man habe sich eingebildet, dass Deutschland mit einer besonderen „Stabilitätsgarantie“ ausgestattet wäre. Dem sei nicht so, die Politik müsse mit viel „Präsenz auch im ländlichen Raum“ dagegenhalten.
Allerdings sei man auch noch nicht in amerikanischen Verhältnissen angekommen. Davon zeugten deutsche Qualitätsmedien, eine hohe Wahlbeteiligung und „eine intensive Auseinandersetzung über das politische Geschehen von Kiel bis München“. Kohler hakt dennoch nach: „Geht es uns zu gut?“ Steinmeier will das so nicht bejahen, aber er beklagt eine gewisse Vergesslichkeit der Bürger: Nicht nur die Herausforderung des Wiederaufbaus nach dem Krieg, auch die weniger lang zurückliegende Zeit der Massenarbeitslosigkeit seien Krisen von mindestens ähnlichem Ausmaß gewesen, die Deutschland gut gemeistert habe. „Manchmal haben wir Kräfte in uns, an die wir selbst nicht glauben“, sagt Steinmeier.
Die Ukraine braucht Hilfe – aber keine Taurus?
Noch mehr Kräfte braucht derzeit die Ukraine. Berthold Kohler spricht den Bundespräsidenten auf die neue Rolle Deutschlands als mit Abstand größter europäischer Waffenlieferant des angegriffenen Landes an – und auf den Bundeskanzler, der etwa Taurus-Marschflugkörper aber auf keinen Fall liefern will. „Werden wir eher kriegsmüde als kriegstüchtig?“, fragt Kohler in Anspielung auf ein Wort von Verteidigungsminister Boris Pistorius. Steinmeier hält die Frage für „nicht entscheidend“. Er habe sich selbst für Waffenlieferungen eingesetzt und es kaum für möglich gehalten, dass Deutschland nun mehr liefert als die anderen Europäer zusammen. Die Taurus-Debatte scheint das Staatsoberhaupt aber zu irritieren. Steinmeier spricht von den vielen „Kaliber-Experten“, die in zunehmender „Ausgelassenheit“ über solche Fragen diskutierten, und er folgert: Die Bundesregierung habe sich mit ihrer vielfältigen Unterstützung für Kiew durchaus das Recht erarbeitet, bei den Waffenlieferungen einen „Entscheidungsspielraum“ zu genießen.
Für sein Resümee, es sei eine „gute Zwischenbilanz“, dass die Deutschen mehrheitlich hinter der Ukraine-Politik stünden und den Freiheitskampf des ukrainischen Volks unterstützten, erhält Steinmeier großen Beifall von den F.A.Z.-Lesern. Und das wird den Bundespräsidenten in seiner Kernbotschaft bestätigen: Es komme auf das „Wir“ an, das er vor kurzem in der F.A.Z. ausbuchstabiert hat, als er einen neuen Patriotismus forderte. Das Werk der Gründer, der Väter des Grundgesetzes wie auch der Väter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, so macht der Bundespräsident klar, gebe allen Anlass für Zuversicht: „Wir haben vieles gekonnt. Auch manches, von dem wir es anfangs vielleicht nicht geglaubt haben.“