Desinformation: Warum ein Verfassungsschützer vor Tiktok warnt und trotzdem ein Verbot ablehnt
Stephan Kramer, Präsident des Thüringer Amtes für Verfassungsschutz data-portal-copyright=
Thüringens Geheimdienstchef Stephan Kramer erkennt große Risiken bei der Kurzvideo-App Tiktok. Dennoch ist er gegen ein Verbot. Er hält andere Maßnahmen für zielführender.
Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, sieht erhebliche Risiken bei der Verwendung der chinesischen Kurzvideo-App Tiktok. Einem möglichen Verbot der Plattform, wie dies in den USA erwogen wird, steht er aber skeptisch gegenüber.
„Verbote und Abschottungen sind ein Weg, der aber Grenzen hat, da im Zeitalter der Digitalisierung und des globalen Internets die Möglichkeiten der Umgehung ebenso zahlreich sind“, sagte Kramer im Interview mit dem Handelsblatt. „Es sei denn, man will eine Zensur des Internets, wie es sonst nur in Diktaturen üblich und mit unseren Vorstellungen und Grundrechten einer offenen Gesellschaft kaum vereinbar ist.“
Tiktok steht wegen der Nähe des Mutterkonzerns Bytedance zur chinesischen Regierung weltweit in der Kritik. Behörden befürchten, dass die Volksrepublik persönliche Daten der Nutzer unter ihre Kontrolle bringen und die öffentliche Meinung manipulieren könnte. Tiktok wehrt sich seit Jahren gegen solche Vorwürfe – und verweist darauf, dass Bytedance zu 60 Prozent im Besitz westlicher Investoren sei.
Tiktok-Gesetz in den USA: Bytedance soll US-Geschäft verkaufen
Die USA wollen deshalb einen Eigentümerwechsel bei der Social-Media-Plattform erzwingen. Ein entsprechendes Gesetz verpflichtet Bytedance dazu, sein US-Geschäft binnen eines Jahres zu verkaufen. Andernfalls werde der Zugriff auf die App blockiert.
Die Bedeutung der Plattform ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Das Unternehmen spricht von mehr als einer Milliarde Nutzerinnen und Nutzern weltweit. In Deutschland sind es pro Monat fast 21 Millionen. Vor vier Jahren waren es hierzulande eigenen Angaben zufolge erst 5,5 Millionen Nutzer.
Für Verfassungsschützer Kramer ist die Entscheidung der USA nachvollziehbar. „Die Amerikaner nehmen das Thema Desinformation und Einflussnahme wesentlich ernster als wir in Deutschland“, sagte er.
Auch der Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz spricht von großen Risiken bei der Verwendung von Tiktok. „Was für Plattformen wie Meta und X gilt, gilt für Tiktok allemal“, sagte er dem Handelsblatt. Ihrer gesellschaftlichen Verantwortung seien diese Unternehmen nie gerecht geworden. „Ihnen waren ihre Aktienkurse stets wichtiger als die eigenen Nutzerinnen und Nutzer“, kritisierte der Vorsitzende des Geheimdienst-Kontrollgremiums des Bundestags.
„So grassiert heute Desinformation auf den Plattformen, Nutzerinnen und Nutzer werden ausgespäht, Diskurse bewusst verschoben und unsere Gesellschaft gezielt destabilisiert.“
Kramer: „Tiktok funktioniert wie ein Trojaner“
Stephan Kramer zog eine Parallele zu Schadsoftware: „Tiktok funktioniert wie ein Trojaner.“ Trojaner tarnen sich als harmlose Programme und entfalten erst dann ihre Wirkung, wenn der ahnungslose Nutzer sie ausgeführt hat.
So werden laut Kramer beispielsweise die Kontakte aus dem Adressbuch der User ausgelesen und an die App übermittelt. Zudem könne Tiktok alle Tastatureingaben mitlesen. „Jeder Nutzer ist quasi ein freiwilliges Versuchskaninchen in einem sozialen Feldversuch, weil unter anderem Vorlieben, Konsum-, Kommunikations- und Surf-Verhalten sowie persönliche Daten an den Betreiber geleitet, dort gesammelt und ausgewertet werden“, so der Verfassungsschützer.
Hinzu komme, dass der Softwarealgorithmus der App erkenne, welche Videos wie lange geschaut werden. Danach würden den Nutzern „individuell maßgeschneidert“ weitere Videos gezeigt, die der Algorithmus als relevant erkannt habe. „Damit steuert Tiktok beziehungsweise der Betreiber China, was die Konsumenten zu sehen kriegen.“
Solange es sich nur um harmlose Katzenvideos handele, sei das „relativ ungefährlich“, sagte Kramer weiter. „Wenn es sich aber um Videos mit politischen oder gesellschaftlichen Informationen oder gar Verschwörungsfantasien oder ausländischen Regierungsnarrativen handelt, wird das Ganze schnell meinungsbildend und damit höchst relevant“, gab der thüringische Geheimdienstchef zu bedenken. Das seien dann „ideale Verhältnisse“ für die Verbreitung von Desinformation, um Gesellschaften zu destabilisieren.
Kramer hält dennoch wenig davon, die Nutzung von Apps oder Plattformen zu verbieten. Sinnvoller sei es, „über die Risiken aufzuklären, Medienkompetenz allgemein und die Resilienz gegen Desinformation zu stärken“.
Kanzler auf Tiktok: Scholz präsentierte seine Aktentasche
„Schließlich müssen die Guten die unterschiedlichen sozialen Plattformen und digitalen Medien ebenso professionell nutzen, um Inhalte und Informationen an die Nutzer, Konsumenten und mündigen Bürger zu bringen, wie es die Bösen tun“, erklärte Kramer. „Es reicht eben nicht, nur den Sonntagskuchen, das Blümchenkleid oder die Aktentasche zu filmen und ins Netz zu stellen. Es müssen Inhalte vermittelt werden.“
Kramer spielt damit indirekt auf Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, der seit Anfang April auf Tiktok vertreten ist. In seinem ersten Video auf dem Kanal „TeamBundeskanzler“ präsentierte Scholz seine Aktentasche.
Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat vor Kurzem einen Tiktok-Kanal gestartet, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ebenfalls. Die AfD ist auf der Videoplattform schon lange aktiv und hat dort viele Follower.
Ein mögliches Verbot wie in den USA sieht auch von Notz kritisch. „Vielmehr plädiere ich dafür zu prüfen, ob es Bereiche geben muss, in denen die Nutzung von Tiktok untersagt wird“, sagte er. FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle verwies auf die Möglichkeiten, die das neue EU-Gesetz für digitale Dienste (Digital Services Act, kurz: DSA) biete. Der DSA verpflichtet Internetunternehmen, konsequent gegen die Verbreitung von illegalen Inhalten und Desinformation vorzugehen.
„Tiktok kann sich bisher nicht glaubhaft vom Vorwurf distanzieren, gezielt autoritäre und antiwestliche Propaganda zu bevorzugen, um die Meinungsbildungsprozesse in liberalen Demokratien zu beeinflussen“, sagte Kuhle. Es sei daher gut, dass die EU-Kommission bereits eine härtere Gangart gegenüber der Plattform eingelegt habe.