„Wir müssen Meloni und Co entzaubern“: EU-Kommissar Nicolas Schmit über die Gefahr von rechts
Bei der Europawahl in fünf Wochen könnten die rechten Parteien in vielen Ländern deutlich an Stimmen gewinnen. Was das für Europa bedeutet und wie sich die progressiven Kräfte dagegen rüsten, erklärt EU-Kommissar Schmit im Interview.
Italy’s Prime Minister Giorgia Meloni looks on as she attends a ceremony to mark the 163rd anniversary of the Italian Army, in Rome, Italy, May 3, 2024. REUTERS/Remo Casilli
In fünf Wochen sind Europawahlen und in vielen EU-Mitgliedstaaten herrscht große Sorge vor einem weiteren Erstarken rechter Kräfte, die in den Umfragen derzeit stark abschneiden. Ist der Rechtsruck noch abzuwenden?
Ja. Natürlich gibt es diese Umfragen. Aber die Wahlen sind noch nicht gelaufen. Der Kampf gegen rechts ist ein zentraler Aspekt unserer Kampagne. Wir wollen den Menschen zeigen: mit den rechten Kräften kann es keine guten Lösungen für Europa geben. Das endet in der Katastrophe.
Was heißt das konkret?
Ein Beispiel: Würde man das Programm der AfD oder anderer extrem rechter Parteien in Europa umsetzen, würde man die Wirtschaft damit in die Knie zwingen. Eine der großen Herausforderungen ist der Mangel an Arbeitskräften – und zwar nicht nur an Fachkräften.
Eine restriktive Migrationspolitik und die Ausweisung von Millionen Menschen wie rechtsextreme Kräfte sie in vielen Ländern propagieren, ist moralisch verwerflich und wäre wirtschaftlich verheerend. Wir brauchen diese Menschen. Hier offenbaren sich auch die programmatischen Widersprüche der Rechten: Während etwa die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu Hause gegen Migranten wettert, will sie gleichzeitig zigtausende Arbeitnehmer von außerhalb der EU anwerben.
Was bedeutet das Erstarken der Rechten für die Demokratie in Europa?
Das ist der gefährlichste Aspekt. Denn dort, wo extrem rechte Parteien an der Macht sind, können wir beobachten, dass politische und soziale Rechte eingeschränkt, Rechte für Frauen und Minderheiten abgebaut werden.
Dieser Trend zeigt sich in Italien, Ungarn, Schweden, Finnland und weiteren Ländern. Auch die internationalen Verbindungen, zum Beispiel zu den Trumpisten, sind eine Gefahr für die Demokratie in Europa.
Kann man die rechten Kräfte in Europa über einen Kamm scheren?
Im Europäischen Parlament gibt es zwei rechtsextreme Fraktionen. Zu den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) gehören unter anderem Melonis Fratelli d’Italia, die polnische PiS oder auch die Schwedendemokraten.
In der Gruppe Identität und Demokratie (ID) ist die noch extremere Rechte versammelt, etwa die AfD oder das französische Rassemblement National (RN) mit seiner Führungsfigur Marine Le Pen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich natürlich in bestimmten programmatischen Punkten und auch in ihrer Radikalität. Aber sie stehen für eine ähnliche Tendenz – nämlich europäische Grundwerte infrage zu stellen.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollte diese Woche die künftige Zusammenarbeit mit der EKR nicht ausschließen.
Ich muss gestehen, dass es mir die Sprache verschlagen hat, als ich das gehört habe. Ich war absolut schockiert. Das ist eine sehr opportunistische Art Politik zu machen. Im Prinzip sagt Frau von der Leyen damit: Wenn wir die Rechten brauchen, dann nehmen wir sie mit. Damit stellt sie den Machterhalt über die politischen Inhalte und Werte. Ich halte diese Öffnung nach rechts für einen sehr gefährlichen Schritt.
Welche Konsequenzen drohen?
Es geht nicht allein um Stimmen, sondern um die Bereitschaft, mit den extrem Rechten zu verhandeln. Welche Zugeständnisse ist Frau von der Leyen bereit, den Rechtspopulisten dafür zu machen? Wir haben in Brüssel entschieden, Verstöße gegen die Grundprinzipien der EU durch Polen und Ungarn etwa im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu sanktionieren. Und nun wollen wir ihre Stimmen, um über die Zukunft Europas zu entscheiden? Wir drohen, die europäische Idee preiszugeben.
Mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán haben wir in Europa große Schwierigkeiten – er eckt an. Giorgia Meloni dagegen ist viel schlauer. Sie wird es genau verstehen, die maximale Gegenleistung herauszuholen. Denn die Rechtspopulisten haben einen Plan – wir hören ihnen nur nicht zu.
Wie sieht dieser Plan aus?
Es geht den Rechten darum, das Europa, das wir jetzt haben, zu zerstören. Meloni hat sich vergangene Woche zur Spitzenkandidatin ihrer Partei für die Europawahl küren lassen. Nicht, weil sie nach Brüssel will, sondern weil die Sache unterstützen will, wie sie sagt. Sie macht aus ihren Zielen keinerlei Hehl. Sie sagt, dass sie die Revolution, die sie in Italien derzeit durchführe, auch auf Europa übertragen will. Das sei für sie die logische Fortsetzung.
Was ist das Ziel von Melonis „Revolution“?
Zum einen werden die Rechte bestimmter Gruppe beschnitten. Zum Beispiel will Meloni die Abtreibung in Italien noch rigider regeln als bislang. Auch die Rechte gleichgeschlechtlicher Eltern wurden deutlich eingeschränkt. Zum anderen geht es um die Machtsicherung. Meloni versucht schrittweise, die öffentlichen Medien unter ihre Kontrolle zu bringen. Von den Medien der Berlusconi-Gruppe wird sie bereits massiv unterstützt.
Und während sich die progressiven Kräfte auf europäischer Ebene an einer Vertiefung der Integration arbeiten, zum Beispiel in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, geht es den Rechten wie Meloni um eine Rückabwicklung. Für sie steht immer der Nationalstaat im Fokus. Europa sehen sie als losen Verbund von Nationalstaaten. Aber nicht als Union, die gemeinsam Entscheidungen trifft und Verantwortung trägt.
Kräfte, die für eine „illiberale Demokratie“ stehen – was ja ein Widerspruch in sich ist – oder eine „softe Diktatur“ sind für uns keine Partner bei der Mehrheitsfindung.
Nicolas Schmit, EU-Kommissar
Wir können uns mit solchen Leuten nicht an einen Tisch setzen und über die Zukunft Europas verhandeln. Wir müssen Meloni entzaubern.
Wie kann das gelingen?
Wir dürfen vor dem, was geschieht, nicht die Augen verschließen. Das beobachte ich in Europa insbesondere bei den europäischen Christdemokraten. Man versucht sich einzureden, dass die extrem Rechten doch gar nicht so schlimm seien wie befürchtet. Doch genau damit geht deren Strategie auf: sie beweisen ihre Salonfähigkeit, um dann ihre Ziele umzusetzen.
Was tun die europäischen Sozialdemokraten?
Wir werden an diesem Samstag in Berlin eine Demokratie-Erklärung unterzeichnen. Damit möchten wir den Menschen klar machen: Mit uns wird es eine Zusammenarbeit mit den extrem rechten Parteien nicht geben. Wir stehen für eine Brandmauer auf europäischer Ebene.
Kräfte, die für eine „illiberale Demokratie“ stehen – was ja ein Widerspruch in sich ist – oder eine „softe Diktatur“ sind für uns keine Partner bei der Mehrheitsfindung. Demokratie ist nicht verhandelbar. Man kann sie nicht in Stücke schneiden und Teile davon infrage stellen. Es gibt sie entweder ganz oder gar nicht.
Warum haben in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen in Europa für rechtspopulistische, europakritische Kräfte gestimmt?
Eine wesentliche Rolle spielen die Krisen, die Europa durchlebt hat, und die Antworten darauf. Gerade die Finanzkrise sehe ich als zentralen Wendepunkt. Das Vertrauen in die Politik hat einen schweren Einbruch erlitten. Die Rechtspopulisten haben seitdem enorm an Aufwind erfahren.
In den vergangenen 20 Jahren waren in Europa durchaus auch sozialdemokratische Regierungen an der Macht. Heute spielen sie in vielen Ländern kaum mehr eine Rolle. Wo sehen Sie die Fehler?
Natürlich wurden Fehler gemacht – auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Gerade die Antworten auf die Finanzkrise waren nicht überall die richtigen. Wir müssen unseren Blick dafür schärfen, dass wir in Europa unsere Wettbewerbsfähigkeit wahren, ohne das Soziale und die Wirtschaft voneinander zu trennen. Die Themen Armut und soziale Gerechtigkeit haben für die Menschen einen hohen Stellenwert.
Aber trotzdem wählen sie die Sozialdemokraten nicht.
Viele Menschen, die rechts wählen, würden sich selbst gar nicht so bezeichnen. Hinter ihrer Wahlentscheidung steht viel mehr der Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit und Verunsicherung. Die extrem Rechten verstehen es, die Ängste der Menschen zu instrumentalisieren.
Blicken wir zum Beispiel nach Holland. Dort herrscht große Wohnungsnot. Und Geert Wilders erklärt das damit, dass die Migranten den Holländern die Wohnungen wegnehmen. Migration hat sich insgesamt zu einem toxischen Thema entwickelt. Die extrem Rechten haben darum ihre gesamte Agenda gestrickt. Dabei präsentieren sie keine Lösungen – sie betreiben reine Angstmache. Und da müssen wir ansetzen.
Was muss sich ändern?
Zum einen müssen wir den Menschen wieder konkrete, positive Lösungen aufzeigen und stärker den Austausch mit ihnen suchen. Das haben wir oft vernachlässigt. Zum anderen müssen wir klar aufzeigen, was auf dem Spiel steht: die Zukunft des demokratischen Europas.
Sie möchten Ursula von der Leyen gerne an der Spitze der EU-Kommission ablösen. Was würden Sie anders machen?
Einiges. Ich würde damit anfangen, die EU-Kommission anders zu führen. Sie ist ein Kollegium, kein Präsidialregime, in der die Präsidentin über alles verfügt. Ich finde es auch wichtig, größere Transparenz über die Arbeit der Kommission zu schaffen und nicht in Silos, sondern vernetzt zu arbeiten.
Ein häufiger Kritikpunkt mit Blick auf die EU ist, dass es einen undurchsichtigen Dschungel an Regulierungen gibt. Das stimmt natürlich zum Teil. Aber pauschal zu sagen, wir bauen 25 Prozent der Regulierung ab – das ist reine Rhetorik und bringt uns nicht weiter. Wir müssen in einen Dialog mit den Stakeholdern treten und verstehen, wo genau der Schuh drückt, wo wir abbauen und vereinfachen können.
Es ist ja auch nicht nur die Kommission, die Dinge reguliert, sondern auch das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten entscheiden. Mehr Teamgeist in der Führung, mehr Transparenz in den Verfahren – das wären zwei Beispiele, wo ich einen anderen Stil pflegen würde.
Eine Herausforderung für die EU besteht derzeit darin, dass die Mitglieder in etlichen Bereichen eine einstimmige Entscheidung treffen müssen. Das kann Entscheidungen – wie zum Beispiel um die Unterstützung der Ukraine – blockieren. Ist diese Regelung noch zeitgemäß?
Nein, eine Änderung ist hier unvermeidbar. Wir müssen in der EU mehr nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden können – gerade in der Außenpolitik, damit wir auf der Höhe der Herausforderungen handlungsfähig sind.
Zuletzt gab es mehrere Enthüllungen um Korruption in den europäischen Institutionen. Denken wir an den Skandal um die griechische Abgeordnete Eva Kaili, aber auch an russische oder chinesische Einflussnahme auf Abgeordnete und ihre Mitarbeiter. Wie können sich die europäischen Institutionen besser schützen?
Hier dürfen wir keinen Millimeter Toleranz zeigen. Die Fraktion der europäischen Sozialdemokraten, der die Abgeordnete Kaili angehörte, hat sie damals sofort ausgeschlossen. Es muss für Verstöße strenge Kriterien und Sanktionen geben. Wir setzen uns derzeit auch einen Ethikrat für die Institutionen ein.
Neben dem Blick nach innen müssen wir auch die Einflussnahme von außen – insbesondere durch Russland und China – sehr genau verfolgen und konsequent abwehren. Denn sie verfolgt das Ziel, unser freies und geeintes Europa zu zerstören. Unser System weist da im Moment noch gravierende Schwächen auf. Da müssen wir stärker werden.
Wie könnte ein rigideres Vorgehen konkret aussehen?
Wenn Beweise für eine Einflussnahme vorliegen, dann muss die Möglichkeit bestehen, dass die betroffenen Personen nicht nur aus ihrer Fraktion ausgeschlossen werden, sondern auch ihres Amtes enthoben werden. Da bin ich ganz radikal. Wir können unsere Demokratie in Europa weder durch Korruption im Inneren noch von Diktatoren aus anderen Ländern untergraben lassen.
Apropos Diktatoren. Vor unserer Haustür verzeichnet Putin derzeit Fortschritte bei seiner Invasion der Ukraine. Warum lassen wir das zu?
Zunächst müssen wir in der Rückschau sagen: Wir haben zu lange geglaubt, dass Russland auf einem guten Weg sei. Wir glaubten an die schöne Idee „Wandel durch Handel“. Aber: Sie passte in unsere Rationalität, nicht aber in die eines Diktators.
Putins Logik ist keines des Friedens, sondern eine aggressive imperiale. Das heißt für uns: Wir müssen die Ukraine in die Lage versetzen, wirtschaftlich, aber natürlich auch militärisch, sich der russischen Aggression weiter zu widersetzen können. Ohne diese Voraussetzung ist keine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, möglich.
Es kann nicht sein, dass einige 1000 Stimmen in Wisconsin oder in Georgia darüber entscheiden, wie es mit der Sicherheit Europas weitergeht.
Nicolas Schmit, EU-Kommissar
Die ukrainische Armee muss sich im Moment von Stellungen zurückziehen, weil sie nicht genügend Waffen hat.
Das ist ein reales Problem. Die Russen werden versuchen, diesen Moment auszunutzen. Umso wichtiger ist, dass wir weiter stark und absolut konsequent hinter der Ukraine stehen. Wir müssen den Ukrainern so schnell wie möglich ausreichend Munition und Waffen zur Verfügung stellen. Deutschland leistet hier bereits viel, aber wir müssen als Europäer insgesamt noch mehr schaffen. Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Wir dürfen nicht nachgeben.
Was sollte die EU konkret tun?
Wir müssen schneller unsere Kapazitäten ausbauen. Das geschieht jetzt auch. Wir müssen der Ukraine im Bereich Munition und Waffen Priorität einräumen. Und wir müssen die europäische Rüstungsindustrie weiterentwickeln und besser vernetzen. Wir müssen unsere eigene Verteidigungsfähigkeit deutlich stärken. Keiner weiß, was bei den US-Wahlen im November geschehen wird. Es kann nicht sein, dass einige 1000 Stimmen in Wisconsin oder in Georgia darüber entscheiden, wie es mit der Sicherheit Europas weitergeht.
In Deutschland dürfen bei dieser Europawahl zum ersten Mal junge Menschen ab 16 wählen.
Das ist eine super Sache.
Was ist Ihre Botschaft an sie?
Unser Europa ist eine wunderbare Idee. Sie steht für Freiheit und für Frieden. Auch wenn dieser jetzt bedroht ist. Ich wünsche mir, dass die jungen Menschen in einem Europa des Friedens erwachsen werden können. Und auch in der Sicherheit, dass Europa auch weiterhin wirtschaftlich und sozial stark aufgestellt ist.
Und eines ist mir besonders wichtig: Die jungen Menschen sollen wissen, dass ihre Stimme zählt. Wir möchten mit ihnen weiter an Europa arbeiten. Nicht nur für sie, sondern mit ihnen.