Was passiert, wenn Russland in der Ukraine siegt?
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Was passiert, wenn Russland in der Ukraine siegt?
„Sieg“ steht auf den unzähligen Fahnen im Moskauer „Park des Sieges“. Dort stellt die russische Regierung in der Ukraine erbeutetes militärisches Gerät wie Panzer und schwere Fahrzeuge aus.
In Russland wie in Europa wird über eine Niederlage der Ukraine diskutiert. Aber wie sähe ein russischer Sieg aus? Und wie könnte Wladimir Putin ihn in seinem Dauerkonflikt mit der Nato nutzen? Eine Prognose.
Im Moskauer „Park des Sieges“ drängen sich vor dem „Tag des Sieges“ am 9. Mai die Schaulustigen um etwa 30 in der Ukraine erbeutete Nato-Kampffahrzeuge, auf einer Plakatwand prangt die Parole: „Unser Sieg ist unausweichlich.“
Russlands Propaganda feiert den Sieg über die Ukraine schon zwei Jahre lang als Gewissheit. Jetzt aber haben die fünf Monate fast ohne US-Waffenhilfe Kiew real in Bedrängnis gebracht. Der Ukraine geht die Munition aus, die Russen nehmen das auf einer strategischen Höhe gelegene Städtchen Tschassiw Jar in die Zange. Von dort können sie auf Kramatorsk, das letzte ukrainische Konglomerat im Donbass, vorstoßen. „Frontdurchbruch“ ist Modewort und Emmanuel Macron warnt: „Wenn Russland in der Ukraine siegt, haben wir keine Sicherheit mehr in Europa.“
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Aber wie sähe dieser Sieg aus? „Maximal“ würde er Putins Kriegsziele „Demilitarisierung“ und „Denazifizierung“ realisieren, verlangte also die militärische Besetzung fast der gesamten Ukraine. Davon sind Russlands Streitkräfte jetzt deutlich weiter entfernt als im März 2022, das erforderte Jahre Zeit und den Einsatz mehrerer hunderttausend Besatzungssoldat:innen.
Noch vor der Bewilligung der 61 Milliarden Dollar US-Militärhilfe bezeichnete der keineswegs hurrapatriotische Kiewer Militärexperte Oleksij Melnik ein Zurückweichen bis zur Grenze der Region Donezk, also um etwa 60 Kilometer, als das Schlimmste, was im nächsten Halbjahr passieren könnte.
Auch viele russische Politolog:innen erwarten nur einen Teilsieg: einen Waffenstillstand, der Russland die faktische Herrschaft über alle besetzten ostukrainischen Gebiete sichert. Und der die Ukraine zwingt, auch andere Bedingungen Russlands zu akzeptieren. „Es könnte auf ein Einfrieren des Konfliktes wie in Korea 1953 am 38. Breitengrad hinauslaufen“, sagt Boris Meschujew, politischer Analytiker. Egal, wo der „ukrainische“ 38. Breitengrad genau verlaufe.
Überfall auf baltische Staaten als militärisches Szenario
Gemessen an den Anfangserwartungen wäre das sogar ein Misserfolg. Aber Moskau führt auch einen Propagandakrieg, wird das Ergebnis triumphal für eine neue psychologische Offensive gegenüber dem Westen nutzen: Der hätte sich dann in Moskauer Lesart als militärisch und industriell unterlegen gezeigt, sein Liberalismus zerbrochen an Russlands traditionellen Werten.
Mit Schmiergeldern für EU-Politiker:innen, vor allem für Nationalpopulist:innen, und mit Stimmungsmache im „alternativen“ Netz wird der Putinismus noch aggressiver am eigenen Export arbeiten.
Estland und Finnland melden schon, Russland unterdrücke die GPS-Signale für den Luftverkehr. Laut westlicher Geheimdienste plant es Anschläge gegen die kriegswichtige Infrastruktur von Nato-Ländern, in Bayern wurden zwei Verdächtige festgenommen.
Schon hagelt es Drohungen. Gerade kündigte Moskau Manöver mit taktischen Atomraketen an. Krieg mit der Nato? Warum nicht? „Wenn die baltischen Staaten oder Polen Bedingungen für eine Bedrohung des russischen Territoriums schaffen, ist ein russischer Angriff wahrscheinlich“, sagt der kremlnahe Politologe Alexej Muchin.
In den Planspielen gilt ein Überfall auf die baltischen Nato-Kleinstaaten als das wahrscheinlichste militärische Szenario.
Als potenzielles Schlachtfeld gilt der Suwalki-Korridor zwischen Polen und Litauen, nur 65 Kilometer breit. Russland könnte ihn mit Vorstößen aus dem belarussischen Nordwesten und der eigenen Exklave Kaliningrad einnehmen. Das Baltikum, auch die eher symbolischen Bataillone, die die Nato-Kernländer dort stationiert haben, wären abgeschnitten. Russland würde je nach Lage den quasi Eingeschlossenen ehrenvolle Kapitulation anbieten und den siegreichen Status quo einfrieren. Oder auf breiter Front gegen Nordostpolen vorrücken.
Allerdings riskierte Russland, über der Ukraine haushoch luftüberlegen, bei diesem Szenario, dass die Nato, wenn schon keine Bodentruppen, so doch ihre Überzahl an Kampfjets losschickt. Deshalb wäre auch eine Großoffensive gegen Polen gewagt. Die 40 Millionen Polinnen und Polen stehen Russland so unversöhnlich gegenüber wie die Ukrainer:innen. Wie diese könnten sie russische Angreifer auch mit nur mittelbarer Nato-Waffenhilfe in jahrelange Stellungskämpfe verwickeln.
In Kasachstan droht Konflikt mit China
Aber in Lettland und Estland gibt es große Minderheiten ethnischer Russ:innen. Statt offen Krieg zu führen, könnte Moskau hier wie 2014 im Donbass Proteste gegen „Russenhass“ provozieren. Etwa in der estnischen Grenzstadt Narwa, deren 60.000 Einwohner zu 95 Prozent Russisch als Muttersprache haben. Man könnte nach dem Drehbuch von 2014 eine „Volksrepublik Narwa“ ausrufen, dann Freischärler oder gar reguläre Truppen aus Russland „zur Hilfe“ schicken. Laut Putin hat auch Peter der Große die Stadt schon einmal „heimgeholt“.
Russische Ultranationalist:innen fordern auch gern die Befreiung der knapp drei Millionen ethnischen Russ:innen in Nordkasachstan. „Aber China engagiert sich stark in Kasachstan“, sagt Politologe Meschujew. „Und Streit mit Peking will Putin unbedingt vermeiden.“ Dazu würde eine Invasion dort Moskaus Anspruch beim Globalen Süden beschädigen, es sei Vorkämpfer gegen den Neokolonialismus.
Im Südkaukasus öffnet sich unterdessen von selbst ein Interventionsfenster: In Georgien will die Bevölkerungsmehrheit in die EU, die Regierung aber schielt Richtung Kreml. Mit repressiven Gesetzen russischer Machart möchte sie offenbar vor den Parlamentswahlen im Oktober die Opposition ausschalten. Russland könnte mit Knowhow und Spezialtechnik helfen, die Massenproteste dagegen niederzuschlagen.
In der Moldau, dem südwestlichen Nachbarn der Ukraine, unterstützt man im Kampf gegen den Westkurs der liberalen Präsidentin Maia Sandu populistische Oppositionsparteien, die prorussische Führung der autonomen Region Gagausien und die ebenso prorussische Rebellenrepublik Transnistrien. Alle werfen Sandu Russophobie vor. Wieder zeichnet sich das Donbass-Szenario von 2014 ab, Putin könnte zum vermeintlichen Schutz der russischen Bevölkerung wie 2022 reguläre Truppen schicken.
Nur hat die Moldau einen Haken. Das Land liegt zwischen Rumänien und der Ukraine, ohne Zugang zum Meer. Russland könnte keine bewaffnete Truppen dorthin bringen. Dafür müsste es erst die ukrainische Region Odessa erobern, also maximal siegen.
Ähnliches gilt anderswo. Erst wenn die Ukraine militärisch erledigt ist, bekommt Moskau freie Hand für andere hybride oder offene Feldzüge. „Wenn die Ukraine die jetzige Front nur annähernd hält, machte das einen russischen Angriff auf Polen oder die baltischen Staaten viel schwerer und riskanter“, schreibt das US-Kriegsforschungsinstitut ISW. Behält Kiew eine Armee, so kann es jedes kriegerische Engagement Russlands anderswo für einen kapitalen Gegenschlag auf Donezk und Lugansk ausnutzen.
Vor seinem Feuerbefehl im Februar 2022 hatte Putin ultimativ den Rückzug der Nato aus Osteuropa und das Verschwinden aller US-Atomwaffen aus Gesamteuropa gefordert. Mit anderen Worten, er will ein Europa, das sich seinem Vetorecht beugt.
Davor aber steht weiter das Hindernis Ukraine. Wenn Wladimir Putin sich treu bleibt, dürfte jeder Waffenstillstand nicht mehr sein, als die Halbzeitpause zwischen seinen Kriegsspezialoperationen 1 und 2 gegen die Ukraine.