Wann beginnt die Spiessigkeit?
BE-Post-Kolumnist Martin Erdmann überlegte sich, die Leute aus dem oberen Stock bei der Polizei zu denunzieren. Nun ist er über seine Wertvorstellung besorgt.
Was ist schlimmer? Schlaflosigkeit oder Spiessigkeit?
Liebe Berner Kantonspolizei
Ich denke nicht besonders oft an dich, wenn ich im Bett liege. Doch kürzlich ist es passiert. Es war bereits nach Mitternacht, aber die Musik aus dem oberen Stock drängte immer noch durch die dünnen Neubauwände in mein Schlafzimmer. Es war der dritte Abend in Folge.
Da hielt ich mich immer für ein grossherziges Wesen, befreit von jeglicher Kleinkrämerei, doch plötzlich schoss der Gründungsvater aller spiessbürgerlichen Gedanken durch meine Gehirnwindungen: Ruf die Polizei!
Diese Eingebung brachte mich an eine Gabelung meines weiteren Lebensweges. Schliesslich vertrat ich bis dahin die Ansicht, wer etwas nächtlichen Lärm nicht aushalten kann, gehört aufs Land verfrachtet.
Es stellte sich also die Frage: Halte ich mein mühsam erschaffenes Selbstbildnis des progressiven Stadtmenschen aufrecht und bleibe tatenlos oder setze ich meine urbane Glaubwürdigkeit aufs Spiel und wähle die 117, um meine Nachbarn bei der Polizei anzuschwärzen?
Anscheinend habe ich unbemerkt ein Alter erreicht, in dem sich der Spass der anderen meinem Schlafrhythmus anzupassen hat. Selbstverständlich bin ich aus Gründen der Eitelkeit nicht dazu bereit, mir das einzugestehen. Also liess ich die Polizei nicht ausrücken, begann dafür, den Ärger über meine durch Prinzipien verschuldete Untätigkeit in Wut auf meine Nachbarn zu transformieren.
Weil die Tür zum Giftschrank meines Unterbewusstseins schon aufgestossen war, strömten allerlei toxische Gedanken heraus, für die mir ein jeder noch so verbitterte Hauswart applaudiert hätte. Beispiele: Früher war das hier eine ruhige Gegend! Oder: Müssen die morgen nicht arbeiten?! Bestimmt machen die etwas im Teilzeitpensum. Etwas Soziales. Etwas, bei dem man sich an den Teamsitzungen gegenseitig aussprechen lässt. So viel Hass machte mich müde, und ich fiel in den traumlosen Schlaf der Selbstgerechten.
Meine Nachbarn haben sich seit jener Nacht ganz ohne Fremdeinfluss in ihrem Lärmpegel gemässigt. Geblieben ist mir nun aber die Gewissheit, dass das Virus der Spiessigkeit in mir schlummert. Doch wann wird es endgültig ausbrechen? Und was wird aus mir, wenn die Dominosteine meiner Maximen zu kippen beginnen?
Werde ich bald meinen Job an den Nagel hängen, um vom Balkon aus mit einem Feldstecher die Nummernschilder falsch parkierter Autos zu notieren? Werde ich demnächst beim Denkmalschutz mitmachen, um sicherzustellen, dass alles genauso bleibt, wie es einmal war? Verstehe ich bald Putin?
Vielleicht wäre der Anruf bei der Polizei auch gar nicht nötig gewesen. Vielleicht hätte man die Angelegenheit mit etwas Schweizer Tugend, also dem bilateralen Weg, lösen können: mit einem passiv-aggressiven Warnschreiben im Treppenhaus.
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