Waadtländischer Sozialismus für die Schweiz

Der Gewerkschaftsboss will den Staat ausbauen. Die Methode exportiert er aus der Waadt, dem Labor, wo er lange Sozial- und Gesundheitsdirektor war.

Die Schweiz ist gerade daran, den Sozialstaat massiv auszubauen – so massiv wie seit fünfzig Jahren nicht. Ein Jahrhundertsturm neuer Soziallasten fegt über das Land. Im Zentrum des Orkans steht eine Figur: Pierre-Yves Maillard, Gewerkschaftsboss und waadtländischer SP-Ständerat.

Der 56-Jährige verlangt mehr Mindestlöhne und weniger Europa. Er hat höhere AHV-Renten erkämpft und will, dass Unternehmen diese Milliarden-Franken-Last allein stemmen. Und jetzt kämpft er für den Krankenkassenprämiendeckel. Auch dieser dürfte die Steuerzahlenden viele Milliarden jährlich kosten, sollte das Volk ihn am 9. Juni an der Urne annehmen.

Einige sagen, Maillard sei «der neue Christoph Blocher» – ein neuer Volkstribun im gegenüberliegenden politischen Lager der Linken. Maillard findet den Vergleich «etwas übertrieben». Doch andere stimmen der Einschätzung zu. Was Maillard wie Blocher auszeichne, seien fünf Eigenschaften, sagt ein Waadtländer FDP-Politiker: Sie seien beide gute Rhetoriker, intellektuell stark, sie hätten klare Ideen, die ideologisch unterfüttert sind und die sie populistisch erklären können.

Maillard bekämpft die liberale Ideologie

Ein Beispiel für seine Rhetorik ist der Prämiendeckel. Das Volksbegehren sei eigentlich «fantastisch», sagt Maillard, denn es öffne den Blick auf den Charakter der Krankenkassenprämie als Zwangsabgabe. Sie sei die Folge eines liberalen Gesundheitsmarktes, der die Abgabe unkontrolliert und laufend erhöhe. «Stellen Sie sich vor, was wäre, wenn jedes Jahr die Mehrwertsteuer einfach ansteigen würde. Deshalb steht sie in der Verfassung, und wir können darüber abstimmen.» Gegen Steuererhöhungen könnten sich die Leute wehren, gegen Prämienaufschläge aber nicht.

«Der liberale Gesundheitsmarkt bedient sich am Mittelstand», kritisiert Maillard. Dieser erhalte in vielen Kantonen zu wenig Prämienverbilligung. So schrumpfe sein verfügbares Einkommen. «So sagen wir jetzt Halt: Es soll es eine Limite für diese Zwangsabgabe geben.» Maillard kann es populistisch erklären, um anzufügen: «Wo ist das Problem?»

Das Problem sind die massiven Folgekosten für den Bund. Sie werden von den Haushalten zum Staat verlagert. Der Bundesrat hat sie auf 6 bis 12 Milliarden Franken jährlich ab 2030 geschätzt. Doch Maillard scheint dies nicht zu kümmern. Soll die Mehrwertsteuer dafür um 2 bis 3 Prozent erhöht werden? «Das sind übertriebene Prognosen. Es kommt auf die Umsetzung an, und über die entscheidet das Parlament», sagt Maillard. Es werde eine billigere Variante wählen. «Doch was wäre die Alternative?», fragt er rhetorisch. Ohne die Initiative würden «die Prämien unbegrenzt weitersteigen».

Maillards Kostenschätzung war viel zu tief

Im Waadtland sei man skeptischer betreffend Maillard-Schätzungen, sagt ein FDP-Politiker. Dort gibt es einen solchen Prämiendeckel bereits, kantonal eingeführt. Die «Handelszeitung» hat nachgerechnet. 2015 schätzte Maillard in seiner Rolle als Regierungsrat für Soziales und Gesundheit die Zusatzkosten des Prämiendeckels auf «40 bis 50 Millionen Franken». Zwei Jahre später, vor der Volksabstimmung, sprach er von 50 bis 60 Millionen. 2018 wurde der Prämiendeckel in zwei Schritten eingeführt. 2019 betrugen die Mehrkosten schon 143 Millionen im Vergleich zur Zeit vor der Einführung. Und vier Jahre später, 2024, werden die Mehrkosten von der Waadtländer Regierung auf 178 Millionen veranschlagt – dreimal so viel, wie Maillard einst versprochen hatte.

Maillard bestreitet, sich verrechnet zu haben. «Diese Zahlen zeigen, dass eine Erweiterung dieses Subventionsmodells über die ganze Schweiz moderate Kosten verursachen würde.» Der Grossteil des Kostenwachstums des Prämiendeckels sei auf stark gestiegene Prämien zurückzuführen. Maillard, der Unbeirrbare. Ein Vergleich von Ecoplan (Jahr 2020) zeigt, dass seit der Einführung des Deckels die Staatskosten pro Kopf im Waadtland sehr hoch sind.

Das Waadtland: Maillards politisches Labor

Maillard lässt sich den Prämiendeckel nicht schlechtreden. «Die Leute im Waadtland schätzen diese Reform. Und sie wurde ohne Steuererhöhung finanziert», sagt der frühere Sozial- und Gesundheitsdirektor des Kantons. 2005 trat er an und 2019 verliess er das Amt. In dieser Zeit hat er etliche neue staatliche Unterstützungen und Sozialhilfen geschaffen, Tagesschulen subventioniert, die Familienzulagen erhöht und den steuerlichen Mieteigenwert von Eigenheimbesitzern reduziert. 26 Subventionsarten sind im Sozialbudget zu finden. Kostenpunkt 1,8 Milliarden Franken.

Maillards Politik zielt auf den Mittelstand. «Er will ihn von staatlichen Leistungen abhängig machen», sagt eine bürgerliche Waadtländer Politikerin, «und diese sozialistischen Methoden jetzt in die Deutschschweiz exportieren.»

Gelungen ist es ihm mit der Überbrückungsrente, der Sozialhilfe für Ausgesteuerte ab sechzig Jahren, auch eine Erfindung Maillards. Sie gab es zuerst im Waadtland. 2020 führte sie das nationale Parlament gesamtschweizerisch ein, als Kompensation zur nicht umgesetzten Masseneinwanderungsinitiative. All diese Maillard’schen Sozialhilfen haben ihren Preis, für den der Mittelstand eine gesalzene Rechnung erhält. Im Waadtland sind die Steuern für einen normalen Haushalt sehr hoch. Ein Doppelverdiener-Ehepaar aus Lausanne mit zwei Kindern  – Medianeinkommen von je 6800 Franken – bezahlt 17’000 Franken in die Staatskasse. Das sind 38 Prozent mehr als in der Stadt Zürich, wo es 11’500 Franken sind.

Maillards Kanton gilt für Private als Steuerhölle. Mit ein Grund sind die hohen Sozial- und Gesundheitsausgaben. Sie dominieren 40 Prozent des Waadtländer Staatsbudgets. Zum Vergleich: In Zürich sind es bloss 18 Prozent.

Trotz Soziallasten brummt die Wirtschaft

Maillard stört das nicht. «Wir machen Sozialpolitik. Sie ist im Interesse der Allgemeinheit.» An der Urne habe man während seiner Zeit als Regierungsrat alle Sozialvorlagen gewonnen, gegen die die Rechte das Referendum ergriffen hatte. Die Wirtschaft wachse im Waadtland «stärker als im Schweizer Durchschnitt». Die Steuern seien zwar hoch, und trotzdem gehe es weiter, sagt Maillard. «Schauen Sie sich an, wie viele Junge ins Waadtland ziehen. Wir haben einen der höchsten Anteile an Jungen in der Schweiz.»

Über die Vergleiche mit tiefen Steuerlasten in Zürich oder Zug mokiert er sich: «Die Leute zahlen zwar tiefe Steuern. Doch je tiefer die Steuern, umso höher die Mieten und Immobilienpreise. Das zeigen die Steuer- und Immobilienpreiskarten.» Damit finanziere man bloss die Gewinne der Immobilieninvestoren.

Lohnschutz und Europapolitik

Selbst in der Wirtschaftspolitik ist das Waadtland Maillards politisches Labor. Dort existiert bereits, was er als Gewerkschaftsboss auf nationaler Ebene unter dem Begriff «Stärkung des Lohnschutzes» fordert: mehr Mindestlöhne in mehr Branchen als bisher. Sie heissen vereinfacht «allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge». Die Details sind technisch.

Im Waadtland existieren solche verbindliche Mindestlöhne etwa im Gartenbau, in einer Branche, wo notorisch Hungerlöhne bezahlt wurden. Mindestlöhne gibt es auch im Detailhandel, im Ausbaugewerbe, in den Garagen und im Metallbau. Selbst Architektur- und Ingenieurbüros haben im Waadtland Mindestlöhne – etwas, was sich Arbeitgeberverbände in der Deutschschweiz nicht vorstellen können.

Diese Waadtländer Methode der verbindlichen Mindestlöhne will er in die Deutschschweiz exportieren. Dort beisst er auf Granit: Weder der Gewerbeverband und noch der nationale Arbeitgeberverband wollen solche waadtländischen Experimente. Doch Maillard hat eine ideologische Mission: die Arbeitnehmerrechte der ganzen Schweiz zu stärken. So verpackt er sein Anliegen populistisch in den Begriff «Lohnschutz stärken». Und stellt es zur Bedingung für die Zustimmung des Gewerkschaftsbunds zu den neuen bilateralen EU-Verträgen. Sie werden in Brüssel derzeit verhandelt.

waadtländischer sozialismus für die schweiz

Keystone /

Vorläufiger Alliierter Blochers?

Und so wird Maillard im Europa-Dossier zum umstrittenen Alliierten der SVP. «Wir haben jetzt sogar zwei Gegner: Pierre-Yves Maillard und Christoph Blocher schlafen im gleichen Bett», stichelte Ex-CVP-Bundesrat Joseph Deiss am Dienstag in der NZZ. Maillard lässt diese Kritik kalt. Er sagt nur: «Wir müssen für den Lohnschutz kämpfen.» Es geht ihm nicht um Blocher, sondern um sein Ziel der Mindestlöhne im ganzen Land. Jetzt bietet sich ihm die einmalige Möglichkeit. «Er hat eine Agenda, die er durchdrücken will», sagt einer, der ihn aus den Verhandlungen um allgemeinverbindlich erklärte Mindestlöhne kannte.

Und so legt Maillard noch zwei Schichten oben drauf: Er ist gegen ein Stromabkommen mit der EU und gegen europäische Bahnkonkurrenz im Inlandverkehr. Zum Stromdossier erklärt er: «Importiert man die Methoden der EU, führt dies zur Zerstörung der garantierten und preiswerten Stromversorgung im Inland.» Zum Bahndossier meint er: «Importiert man die Methoden der EU, führt dies zu grossen Verspätungen im Fahrplan, zu schlechtem Service und zu Pannen.» So fragen sich die Befürworter eines neuen EU-Abkommens, ob Maillard im Europa-Dossier überhaupt kompromissbereit sei.

Kompromisse à la Maillard

Solche, die ihn länger kennen, sagen, dass Maillard sich oft kompromissbereit gebe. Aber dass er eine spezielle Auffassung von Kompromiss habe: Er baut Widerstand gegen ein wirtschaftliches Kernanliegen auf, das ihm missfällt. Und er stellt in Aussicht, den Widerstand aufzugeben, wenn man ihm zusätzliche Sozialleistungen ermöglicht. Dafür gibt es zwei Beispiele: Unternehmenssteuerreform und Masseneinwanderungsinitiative.

Die Wirtschaft wollte die Unternehmenssteuerreform um jeden Preis, um den Tiefsteuerstandort zu erhalten. Maillard wollte was anderes. Er sagte den Befürwortern: Gebt uns mehr Geld für Sozialleistungen, dann geben wir den Widerstand gegen eine für Firmen attraktive Steuerregelung auf. Dieser Tausch hat zwar funktioniert. «Aber in Tat und Wahrheit war es kein Tausch. Maillard hat bloss den Sozialstaat ausbauen können», sagt ein waadtländischer FDP-Politiker.

Auch bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative funktionierte sein «Kompromiss». «Nur Maillard hat etwas erhalten, nämlich den Ausbau des Sozialstaats mit der Überbrückungsrente», sagt der erwähnte FDP-Politiker.

Jetzt übe Maillard diese Taktik ein drittes Mal in der Europapolitik aus, sagt der erwähnte Kenner. Maillards Angebot: «Gebt uns mehr allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge, dann können wir eine Lösung finden.» Ob für den gewieften Politiker diese Kompromissvariante aufgeht, ist offen. Maillard selber beklagt: «Die Arbeitgeberverbände sind überhaupt nicht kompromissbereit.»

Die Bürgerlichen wollen diesmal auf seinen Scheinkompromiss nicht eingehen. Ob am Ende die bilateralen Verträge mit der EU deswegen scheitern, weiss heute niemand vorherzusagen. Doch sollten sie, so dürfte der Orkan sozialpolitisch noch stärker blasen, als er es heute schon tut.

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