Ukrainekrieg: Washington wirft Moskau Chemiewaffeneinsatz vor
Üben für den Ernstfall: Ukrainische Soldaten werden im Februar für den Einsatz mit Gasmasken ausgebildet
Das amerikanische Außenministerium wirft Russland vor, gegen die ukrainischen Streitkräfte Chemiewaffen einzusetzen. Konkret geht es um Chlorpikrin sowie um sogenannte Unruhenbekämpfungsmittel wie Tränengas. Beides darf laut der Konvention über ein Verbot chemischer Waffen nicht im Krieg eingesetzt werden.
Chlorpikrin ist eine leicht ölige Flüssigkeit, die Atembeschwerden, Augenreizungen und Hautblasen, zudem Brustschmerzen und Angst hervorruft. In schweren Fällen ist Tod durch Ersticken möglich. Die deutsche Armee setzte Chlorpikrin im Ersten Weltkrieg ein.
Auch auf russischer Seite wurde der Kampfstoff verwendet, so im Bürgerkrieg nach der Machtübernahme der Bolschewiken gegen deren Widersacher und später von der sowjetischen Armee im Afghanistankrieg. Der Kampfstoff ist leicht nachweisbar und ausdrücklich von der Chemiewaffenkonvention verboten. Zum Hintergrund des Verbots von Unruhenbekämpfungsmitteln im Krieg gehört, dass Soldaten – anders als Teilnehmer von Protesten oder Unruhen in einem zivilen Umfeld – nicht aus ihren Schützengräben fliehen können, ohne Gefahr zu laufen, beschossen zu werden.
Das amerikanische Außenministerium nannte nun keine konkreten Beispiele für Einsätze, hob aber hervor, es gehe nicht um einen Einzelfall und sei „vermutlich motiviert“ durch den russischen Wunsch, die ukrainische Armee aus befestigten Stellungen zu treiben und „taktische Gewinne auf dem Schlachtfeld zu erzielen“.
Der russische Botschafter in Washington, Anatolij Antonow, wies die Vorwürfe als „absolut abscheulich und durch nichts begründet“ zurück. Die neuen Sanktionen setzten „russophobe Handlungen der USA“ fort, klagte Antonow. Präsident Wladimir Putins Sprecher, Dmitrij Peskow, sagte, „wie immer erklingen solche Anschuldigungen absolut unbegründet“. Russland sei und bleibe seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen auf dem Gebiet verpflichtet.
Biden hatte Russland gewarnt
Russland ist der Chemiewaffenkonvention in den Neunzigerjahren beigetreten und Mitglied der durch sie geschaffenen Organisation über ein Verbot Chemischer Waffen (OPCW). Offiziell hat das Land keine Chemiewaffen mehr: Im September 2017 gab Putin vor Staatsfernsehkameras den Befehl, Russlands angeblich letzte Kampfstoffmunition zu vernichten. Putin sprach von einem historischen Ereignis und warf den Vereinigten Staaten vor, ihre chemischen Waffen nicht schnell genug zu vernichten; Washington erreichte das Ziel erst im vergangenen Jahr. Im Westen wird Russland vorgeworfen, nicht alle Chemiewaffenbestände deklariert zu haben.
In der Meldung des amerikanischen Außenministeriums ist nun gar von „Russlands Programmen für chemische und biologische Waffen“ die Rede. Verwiesen wird auf die Anschläge mit dem Kampfstoff Nowitschok, die „aus demselben Strategiebuch“ stammten wie die nun verurteilten Einsätze in der Ukraine. Dabei geht es um die Attentate auf den früheren Agenten Sergej Skripal und dessen Tochter 2018 im englischen Salisbury und auf den Putin-Gegner Alexej Nawalnyj in Russland 2020.
In beiden Fällen hatte die OPCW auf Grundlage eigener Untersuchungen eine Nowitschok-Vergiftung bestätigt. Moskau sprach jeweils von einer „russophoben Kampagne“ und stellte die OPCW, die neben Russland 192 weitere Mitglieder hat, als westliches Instrument dar. Recherchen zum Attentat auf Nawalnyj weisen auf eine Einheit des Geheimdiensts FSB als Urheberin und legen nahe, dass dieser etliche weitere Russen zum Opfer gefallen sind oder Giftanschläge knapp überlebt haben.
Der amerikanische Präsident Joe Biden hat Russland davor gewarnt, Chemiewaffen gegen die Ukraine einzusetzen. Im März 2022 sagte er, Moskau werde einen „ernsten Preis“ dafür bezahlen. Die Antwort werde von der Art des Einsatzes abhängen. Mit amerikanischen Strafmaßnahmen belegt werden nun unter anderem eine Militäreinheit und vier russische Unternehmen. Peskow sagte, man erwarte keine Folgen für Russlands internationale Zusammenarbeit. Washington hatte schon zuvor kritisiert, dass Russland Unruhenbekämpfungsmittel als Kriegswaffe einsetze, und immer wieder ist berichtet worden, dass Moskau Bidens Warnung ignoriere.
Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte das ukrainische Militär Mitte April, Russland habe den völkerrechtswidrigen Einsatz etwa von Tränengas an der Front ausgeweitet und seit dem Überfall rund 900 solcher Fälle verzeichnet. 500 Soldaten hätten behandelt werden müssen, ein Soldat sei erstickt. Reuters zeigte auch, wie ukrainische Soldaten üben, bei entsprechenden Angriffen rasch Gasmasken aufzusetzen. Kiew hat Moskau auch den Einsatz von Chlorpikrin vorgeworfen, Russland Gegenvorwürfe erhoben.