Saburo Teshigawara und die Perfektion der Unvollkommenheit
Saburo Teshigawara wurde für seine Arbeit als Choreograf, Tänzer, Bildhauer, Designer und Maler unter anderem mit dem Praemium Imperiale und dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig geehrt. Hossein Salmanzadeh / Imago
Allzu häufig wird man Saburo Teshigawara wohl nicht mehr auf der Bühne erleben. Der weltberühmte japanische Tänzer, Choreograf und bildende Künstler ist im letzten Jahr siebzig geworden. Jetzt tourt er mit seiner langjährigen Partnerin Rihoko Sato im Rahmen des Tanzfestivals Steps durch die Schweiz. Mit im Gepäck: eine neue Tanzfassung von «Tristan and Isolde». Richard Wagners Musikdrama haben er und Rihoko Sato auf ein Duo von einer Stunde kondensiert. Da tanzen sie ganz in Schwarz gekleidet ihren Tanz um Liebe, Leidenschaft, Kränkung, Tod, ohne sich zu berühren. Die grosse, mächtige Musik, die starke Energie und «eine sehr menschliche Geschichte, die aber weit über alltägliches menschliches Verhalten» hinausgehe, hätten ihn inspiriert, sagt Saburo Teshigawara.
Wir treffen uns im Theater Basel, wo er soeben auf Einladung der neuen Ballettdirektorin Adolphe Binder seinen Tanzabend «Verwandlung – Teshigawara» kreiert hat, und diskutieren zwischen zwei Proben über menschliche Verletzlichkeit und den Wunsch nach Perfektion und Vollkommenheit. Er arbeitet weiter an dem Thema, das ihn schon sein Leben lang beschäftigt. «Wir sind unvollständige Kreaturen, nicht perfekt, aber fast. Und wir verfügen über grosse Vorstellungskraft», sagt Saburo Teshigawara im Verlauf des Gesprächs.
Anders als Tiger oder Elefanten wüssten wir von unserer Verletzlichkeit, könnten uns aber Perfektion vorstellen und sie anstreben. So neigten wir dazu, Design, Gebäude und anderes möglichst in geraden Linien zu entwerfen. «Doch in der Natur, im menschlichen Körper gibt es keine geraden Linien. Die Musik Wagners ist so rund, mit solchen Wellen, Dissonanzen. Die Grundlage menschlicher Energie liegt in der Natur. Alles kann akzeptiert werden: Felsbrüche, gewaltige Energien vom Himmel und der Erde. Und das Stück zielt geradezu in die Unordnung.»
Schillernde Gesamtkunstwerke
Menschen auf der Suche nach innerer Ruhe, die von irgendwelchen Kräften durcheinandergeschüttelt werden: Man kennt sie, seit Saburo Teshigawara in den 1990er Jahren mit seinem 1985 gegründeten Ensemble Karas am Zürcher Theaterspektakel auftrat. Er war einer der ersten Tanzkünstler, der die zunehmende Atomisierung der Gesellschaft so konsequent in Bilder fasste.
Es waren dies schaurig klare Bilder von der unerbittlichen Einsamkeit des Individuums, das divergierenden Kräften ausgeliefert schien, metallenen Klängen, gleissendem Licht – und sich selbst. Saburo Teshigawara zeichnet immer auch für Bühne, Kostüme und Licht verantwortlich, und seine Inszenierungen sind bis heute schillernde Gesamtkunstwerke von Skulpturen und aufblitzenden Körpern.
Elektrisiert hatte damals aber auch der Tanz des Meisters selbst. Saburo Teshigawara tanzte wie ein Wesen unter Strom. Man konnte buchstäblich sehen, wie die Energie vom Boden her durch die Füsse in den Körper strömte, von da in den Raum und durch den Körper wieder zurück. «Ich habe eben Magnete an den Schuhen», schmunzelt er und präzisiert: «Die Schwerkraft ist gewissermassen magnetisch. Sie ist die Conditio humana und lässt sich nicht überfliegen.»
Der Mensch sei ein seltsames Wesen, findet er, nicht Fisch, nicht Vogel und ohne perfekte Balance. «Wir sind stets dabei, das Gleichgewicht zu verlieren. Wie ein Fahrrad, das fällt, sobald es stillsteht. Das ist ein Symbol unseres Lebens. Wir sind Off-Balance-Kreaturen und müssen uns ständig bewegen, müssen die Luft atmen, die uns umgibt – wir sind fragile Geschöpfe.»
Über sich hinaustanzen
Zu sehen ist das nun auch an dem grossartigen Abend «Verwandlung» in Basel. Im zweiten Teil, «Like a Human» betitelt, bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer wie geschlagene Hunde aus dem Tierheim. Vor ihnen wäre diese Hand. Sie bietet Futter, will streicheln, und die Hunde lechzen danach. Fast schaffen sie es auch, bis auf zehn Zentimeter oder so, dann meldet sich die innere Vorsicht, und sie weichen zurück. Sie zittern, zögern, zweifeln – «Like a Human» zeigt den Versuch, über sich hinauszutanzen.
Und doch bleiben die Figuren immer am Ort. Sie sind gekleidet, fürs Geschäft, fürs Golfen oder für die Teegesellschaft. Sie heben ab zum Flug durch den Raum. Dann knicken die Glieder ein, die Füsse stellen sich quer, und der Oberkörper neigt sich dem Boden zu, als müsste der Mensch hier und jetzt an seinem Mut zerbrechen. Ein weiterer Kommentar zur Unvollständigkeit des Menschen: zögernde Körper, Körper in unvollständigen Bewegungen: «Ich lebe immer in der Unvollständigkeit», sagt Saburo Teshigawara an diesem Morgen zwischen zwei Proben. Das lässt ihn weitertanzen.
Nicht, dass er nie ans Aufhören gedacht hätte. Vom Anfang seiner Karriere an – und immer wieder einmal. Aber wann immer er sich neu orientieren wollte: «Ich kam zum Tanzen zurück.» So auch, als er krank im Spital lag und danach erstmals wieder an die frische Luft trat: «Mein Körper war so schwach, aber meine Motivation war offen. Und da, unter freiem Himmel, in der frischen Luft, fing ich ganz natürlich zu tanzen an.» Und jene Bewegungen, die Atmosphäre, die Temperatur der Luft haben sich für immer in sein Gedächtnis geschrieben. Vom 4. Mai an wird er nun in Luzern und später in Bern, Chiasso und Basel zusammen mit Rihoko Sato den Liebestod tanzen. Und damit für unsere Augen der Vollkommenheit vermutlich doch sehr nahe kommen.