Russen in Estland: Sie zahlen einen Preis für Putins Krieg

Im estnischen Narwa sind 94 Prozent der Bevölkerung russischsprachig. Doch ab 2029 darf an Schulen nur noch auf Estnisch unterrichtet werden. Ist das überhaupt möglich?

russen in estland: sie zahlen einen preis für putins krieg

Dem anderen Land so nah: Von Narwa geht der Blick direkt hinüber zur Festung Iwangorod.

Über den Fluss Narwa hinweg, blicke ich auf Russland. Auf der Festung Iwangorod bewegt sich träge eine russische Flagge. Menschen mit Rollkoffern überqueren einen der letzten offenen Grenzübergänge in die EU.

Ich bin aus der estnischen Hauptstadt Tallinn angereist und gefühlt in einem anderen Land. In der Industriestadt Narwa laufe ich an klotzigen Sowjetbauten mit unverputzter Fassade vorbei. Am Bahnhof, im Supermarkt, auf Schulhöfen – überall höre ich russische Sprachfetzen. Das ist nicht verwunderlich, denn hier sind 94 Prozent der Bevölkerung russischsprachig.

Ich bin in Narwa, um zu verstehen, wie die Menschen auf eine der größten Bildungsreformen des Landes reagieren. Im Dezember 2022 hat die estnische Regierung ein Gesetz verabschiedet, das bis 2029 in allen russischsprachigen Schulen und Kindergärten eine Umstellung auf Estnisch vorschreibt. Auf der einen Seite reagiert die Regierung mit dem Gesetz auf das estnische Trauma der Besatzung, auf der anderen Seite entfacht es das russische Trauma der erzwungenen Anpassung. Dazwischen geht es – wie so oft – um die Deutungsmacht kultureller Identitäten.

Im Narva College treffe ich den Englischlehrer Vjatšeslav Konowálow. Das neu errichtete Gebäude mit einer dem Barockstil nachempfundenen Betonfassade und imposant vorspringenden Dach zeichnet die Konturen des ehemaligen Börsengebäudes in Narwa nach. Vergangenheit und Zukunft bedeuten ein konstantes Ringen in der Grenzstadt.

Konowálow ist ein großer Mann mit freundlichem Lächeln. Er studierte in Russland und kehrte 1992 nach Estland zurück. Er leitete das Pähklimäe-Gymnasium in Narwa, an dessen Stelle im vergangenen Jahr eine Grundschule trat – ein Beispiel der gut zehn Fusionen und Schulschließungen, die in dem 1,3 Millionen Einwohner:innen-Land seit Herbst 2023 ihren Lauf genommen haben. Bereits in diesem Jahr soll laut Gesetz in der Vorschule, in der ersten und vierten Klasse nur noch auf Estnisch unterrichtet werden. “Warum so schnell?”, sagt Konowálow. “Wir bezahlen gerade den Preis dafür, was Putin im Jahr 2022 gemacht hat.”

Die Umstellung auf Estnisch in russischen Schulen wird bereits seit Jahren diskutiert, doch es haperte bisher an einer konsequenten Umsetzung. Dass nun so plötzlich ein Gesetz auf den Weg gebracht worden ist, sehen – wie auch Konowálow – viele russischsprachige Menschen im Angriffskrieg auf die Ukraine begründet. Zwar vermeidet die estnische Regierung, ihre Entscheidung geopolitisch zu begründen, doch auch andere Vorstöße wie die Debatten über Verbote russischsprachiger Medien verdeutlichen die Sorge vor der Einflussnahme russischer Propaganda.

Als Schulleiter war Konowálow damit beauftragt, Lehrkräfte innerhalb kurzer Zeit dazu zu bringen, ein C1-Niveau in Estnisch zu erreichen. Die, dies es nicht erreichen, müssen gehen. Um die Lücken zu füllen, musste Konowálow in einer Situation des akuten Lehrermangels – die Löhne sind niedrig, die Anforderungen hoch – estnisches Lehrpersonal anwerben. “Kein Este kommt freiwillig hierher, auch wenn das Lehrergehalt genau deswegen 1,5-mal höher ist”, sagt Konowálow. “In Narwa kann man sich perfekt zurechtfinden, ohne ein Wort Estnisch.” Lehrende erhielten Briefe mit der Androhung, dass sie entlassen würden, wenn sie das Sprachniveau nicht erreichten. Der Druck war immens. Konowálow bat um seine Entlassung und arbeitet nun als Lehrer an einer anderen Schule.

Bei Verstößen gegen die Beschlüsse der Bildungsreform können mittlerweile Bußgelder von bis zu 9.600 Euro erhoben werden. Die Auswirkungen auf das schulische Personal sind verheerend. Die älteren Lehrkräfte denken an Frührente, die Jüngeren probieren sich durch die Sprachkurse zu beißen, andere wiederum hoffen darauf, einen neuen Job zu finden, beschreibt Konowálow die aktuelle Situation in Narwa.

Seit der estnischen Unabhängigkeit im Jahr 1991 muss die Bevölkerung laut Gesetz in der Öffentlichkeit auf Estnisch zurechtkommen. Für viele ethnische Esten bedeutete das ein Befreiungsschlag nach der fast 50 Jahre andauernden Okkupation durch die Sowjetunion. Trotzdem gab es weiterhin ein – bis vor Kurzem staatlich gefördertes – zweisprachiges Schulsystem. Ein Gesetz über die Kulturautonomie von 1925 schützt die Sprache nationaler Minderheiten, doch eine neuere Version aus dem Jahre 1993 lässt zahlreiche Aufweichungen zu.

So erklärte die Regierung die estnische Sprache bereits in den frühen 2000er-Jahren zum Integrationsmaßstab, indem sie beispielsweise Immersionsklassen etablierte, in denen russischsprachige Schüler:innen auf Estnisch unterrichtet werden. Während einige darin den Versuch einer Zwangsassimilation sahen, bedeutete es für andere eine größere Chancengleichheit. Um beispielsweise an den Universitäten des Landes zu studieren, benötigt man einen estnischen Schulabschluss.

In Tallinn treffe ich Oksana Jaakson und ihre Tochter in einem Café. Alexandra kaut auf ihrer Unterlippe. Die 13-Jährige trägt eine Zahnspange und einen schwarzen XXL-Hoodie. Sie spricht Russisch mit der Mutter, Estnisch mit dem Vater. Sie singt in einem russischen Chor. Und Filme, Bücher, TikTok? “Russisch und Englisch.”

Oksana, hochgewachsen, lange, schwarze Haare, blaues Kleid. “Das Thema ist sehr emotional für mich”, sagt die 46-Jährige. Wenn ihr bei längeren Erklärungen die englischen Wörter ausgehen, wechselt sie ins Russische. Oksanas Geschichte steht beispielhaft für viele russischstämmige Menschen, die in Estland geboren sind: Ihr Vater wurde aus dem damaligen Leningrad wie viele andere Arbeiter in die heutige estnische Hauptstadt umgesiedelt. Die in der Textil- und Bauindustrie benötigten Menschen waren Teil einer großangelegten Russifizierung in den baltischen Staaten. Bereits während der Achtzigerjahre gab es in Estland nationalistische Unabhängigkeitsbewegungen, die die emigrierten Arbeiter:innen aus dem restlichen Teil der Sowjetunion als illegal betrachteten und loswerden wollten – eine Antwort auf die sowjetische Besatzung, die bis heute spürbar ist.

Die estnische Staatsbürgerschaft erhielten 1992 dann nur jene, die bereits in der ersten Estnischen Republik (1918–40) gelebt hatten. Alle anderen hatten die Wahl: einen schwierigen Einbürgerungstest zu bestehen, Estland zu verlassen oder mit einem grauen Pass weiterzuleben, der sie staatenlos machte und ihre politischen Rechte stark einschränkte. Knapp 500.000 Menschen wurden damals mit einem Schlag staatenlos. Oksana bekam die estnische Staatsangehörigkeit durch ihre Mutter, die die Prüfung bestand.

Nun bangt Oksana um die Zukunft ihrer Tochter. Alexandra besucht ein naturwissenschaftliches russisches Gymnasium. “Es ist schwierig, Mathematik und Chemie in einer neuen Sprache zu lernen”, sagt Oksana. Und wie sollten ältere Lehrer in einer Fremdsprache den Stoff richtig vermitteln können? “Hier wird das Dienstpersonal von morgen, Fabrikarbeiter und Taxifahrer, ausgebildet. Das ist die Rache an uns.” Oksana ist wütend auf die Regierung. Die Bildungsreform erinnert sie daran, dass ihre Anliegen genau wie die ihrer Eltern nicht gehört werden, nichts wert sind. Sie sei Estin, aber respektiert werde sie nicht.

Tartu, die zweitgrößte Stadt in Estland, präsentiert sich ganz im Sinne des selbst auserkorenen Slogans “Stadt der guten Gedanken” als weltgewandte Universitätsstadt. Tallinn immer einen Schritt voraus, beschloss Tartu, die zwei russischsprachigen Schulen und drei Kindergärten bereits bis 2025 auf Estnisch umzustellen. Dabei bemühte sich der Stadtrat schon früh um Inklusion und gab eine Studie in Auftrag, in der russischsprachige Eltern nach ihren Sorgen und Verbesserungsvorschlägen befragt wurden.

Auf den gepflegten Pflastersteinstraßen in Tartu umgibt mich der Sprachenmix von Erasmusstudierenden. Plakate bewerben Ausstellungen und Semesterpartys. Die pastellfarbenen Häuser im klassizistischen Stil sind mit dem Slogan “Tartu 2024” geschmückt, ein Verweis auf die diesjährige Europäische Kulturhauptstadt.

Als ich das Viertel Jaamamõisa aufsuche, wo ein Großteil russischsprachiger Menschen lebt, blicke ich auf bunt gestrichene, renovierte und von Bäumen umsäumte Wohnblöcke. Ein üppiges Flussufer mit Bänken und Sportgeräten ist nicht weit entfernt, auf den Straßen sind junge Leute auf Fahrrädern unterwegs.

Die estnische Sicht: Es muss sein

Lemmit Kaplinski, stellvertretender Bürgermeister in Tartu, ist froh über das Forschungsteam, das im Vorfeld der Sprachumstellung Eltern befragt hat. “Die russische Annäherung an Autoritäten ist anders als die estnische. Mit mir sprechen sie nicht.” Kaplinski ist ein aufgeschlossener 44-jähriger Este mit einer steilen Karriere. Seine wohlüberlegten, langen Antworten klingen weniger resolut als die sich stets auf den bürokratischen Prozess fokussierten Stimmen aus dem Bildungsministerium. Die Studienergebnisse hätten vor allem soziale Aspekte untersucht, meint Kemplinski. Einerseits sollte mittels Interviews ein Überblick über das Engagement, die Ängste und Lösungsvorschläge der Eltern erlangt werden, um so die Lernumgebungen der russischsprachigen Kinder besser zu begreifen. Andererseits bekamen Eltern so die Möglichkeit, bei bildungspolitischen Fragen mitzusprechen. “Es war sehr gut für uns, das Forschungsteam an unserer Seite zu haben, um Ideen auszutauschen und Fragen zu stellen.” Einführen möchte er gerne spezielle Veranstaltungen für Eltern, um sie aktiv in das Schulleben zu integrieren.

Kaplinski ist jedoch, wie die meisten anderen regierenden Politiker:innen, ganz klar der Meinung: Die Sprachumwandlung muss unbedingt sein. “Wir sollten überhaupt keine getrennten Schulen haben”, sagt er mir am Telefon, “jedes Kind sollte in die Schule gehen, die seinem Wohnort am nächsten ist und wo sie mit verschiedenen Muttersprachen auf Estnisch lernen.” Denn das, was vor allem fehle, sei das gemeinsame Spielen und Abhängen, geteilte Hobbys und Freundschaften zwischen russischen und estnischen Kindern. “Das eigentliche Ziel ist es, die Segregation in der Gesellschaft zu beenden”, sagt Kaplinski.

Der Schutz von Minderheiten zählt zu den Grundlagen einer pluralistischen Gesellschaft, zu der sich Estland gerne zählt. Ob ein schnelles und schonungsloses Durchsetzen der Sprachreform allerdings zu diesem Ergebnis führen wird, ist fraglich. Jetzt zumindest scheint es so, als sei sie ein politischer Integrationsversuch, der die Spaltung der Gesellschaft noch verschärft.

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