Proteste auch in Frankreich: Durchgreifen auf dem Campus
Propalästinensische Protestierende besetzten Ende April eine Straße vor der Elitehochschule Sciences Po.
Ein Vorfall an der Pariser Elite-Hochschule Sciences Po sorgte Mitte März für Aufregung. Es gibt divergierende Schilderungen des Ereignishergangs; fest steht, dass eine jüdische Studentin einer Veranstaltung in einem von propalästinensischen Kommilitonen besetzten Hörsaal beiwohnen wollte. Wurde ihr der Eintritt verwehrt, mit den Worten „Lasst sie nicht rein: Sie ist eine Zionistin“? Oder verließ sie den Saal von sich aus, weil Anwesende, die sie von früheren Zusammenstößen her kannten, andere warnten, sie werde ihre Gesichter filmen und im Netz zeigen – wo die Bilder dann gern von rechtsextremen Medien wie dem Fernsehsender CNews aufgegriffen werden, um Sciences-Po-Studenten als Antisemiten und Hamas-Anhänger zu zeichnen?
Verschärfung der Polarisierung
Rechte Politiker nutzten die Gelegenheit, um den „frenetischen Aktivismus“ an Frankreichs höheren Bildungsstätten zu geißeln: Diese drohten zu „islamistisch-linkssektiererischen Bunkern“ zu entarten. Premierminister Gabriel Attal erschien gar ungebeten zu einer Sitzung des Verwaltungsrats von Sciences Po, las den Anwesenden die Leviten und deutete an, der Staat werde wo nötig die Kontrolle übernehmen. Die Wissenschaftsgemeinde, die auf ihre akademische Freiheit pocht, reagierte mit Unmut. Wollte man die Fronten bewusst verhärten, man ginge nicht anders vor.
Ende April errichteten dann ein paar Dutzend Studenten im Innenhof eines Nebencampus von Sciences Po ein Zeltlager. Dieses wurde noch in derselben Nacht durch Bereitschaftspolizisten aufgelöst, die der erst seit einem Monat amtierende Interimsverwalter Jean Bassères gerufen hatte. Dass Ordnungskräfte eine höhere Lehranstalt betreten, stellt in Frankreich die absolute Ausnahme dar – die Tradition der franchise universitaire will, dass Universitäten und Hochschulen bis auf Fälle akuter Bedrohung selbst für ihre innere Ordnung sorgen. Abermals große Aufregung, Verschärfung der Polarisierung.
Dutzende Protestierende von der Polizei verjagt
Wenig überraschend besetzten daraufhin fünf Dutzend Studenten den Hauptcampus. Bassères änderte die Strategie: Im Gegenzug für die Aufhebung eines Teils der laufenden Disziplinarverfahren handelte er das Versprechen aus, der Lehrbetrieb werde nicht mehr gestört. Siehe da: Die Blockade löste sich in Luft auf. Bei einem Augenschein am Dienstag waren vor dem Haupteingang Rue Saint-Guillaume lediglich die üblichen Wächter zu sehen. Acht Studenten, beim Verlassen des Gebäudes angesprochen, bezeugten wenig Interesse für „diese Geschichten“. Einer von ihnen, der bezeichnenderweise seinen Namen nicht nennen wollte, artikulierte seinen Ärger über „diese Blödmänner“ – und seine Hoffnung, die am Montag beginnenden Jahresabschlussprüfungen könnten reibungslos ablaufen.
Ende gut, alles gut? Nichts ist weniger sicher. Erstens findet an diesem Donnerstag eine von der Direktion anberaumte „town hall“ zum Israel-Palästina-Konflikt statt: eine Diskussionsrunde nach amerikanischem Vorbild, bei der alle Parteien alle Themen aufs Tapet bringen. Solche Unternehmen geraten gern aus den Gleisen. Zweitens sind die Spannungen – wie jenseits des Atlantiks, wenngleich nicht mit derselben Virulenz – auf etliche Institutionen übergesprungen. Zuerst auf die Mehrzahl der regionalen Campus von Sciences Po. Dann auch auf Universitäten, etwa jene in Dijon, Grenoble, Lille, Lyon und Rennes. Und sogar auf die altehrwürdige Sorbonne, von wo ein paar Dutzend Protestierende Anfang der Woche durch Polizisten verjagt wurden – wie auch von der Universität von Saint-Étienne.
Das wiederholte Entsenden von Ordnungskräften ins Innere von Lehranstalten zeigt, dass die Regierung auf demonstratives Durchgreifen setzt. Und hier liegt, drittens, die größte Gefahr: in der Instrumentalisierung einer Protestbewegung, die bis jetzt ohne Gewalt gegen Personen noch Sachbeschädigungen verlaufen ist, zum Profilierungsmittel für Politiker. Vertreter der linkspopulistischen Partei La France insoumise inszenieren so gern ihre Nähe zu propalästinensischen Studenten, derweil Repräsentanten der bürgerlichen Präsidentenpartei sich mit Blick auf die baldigen Europawahlen wider „islamistisch-linkssektiererische Randalierer“ in die Postur des Garanten für Recht und Ordnung werfen.