Präsident und Großmufti ringen um die Anerkennung homosexueller Paare
Zwei Frauen küssen sich im vergangenen Sommer bei einer Parade in Prishtina.
Ende April war der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti in Berlin. Er traf Außenministerin Annalena Baerbock, Bundestagsabgeordnete, Diplomaten und wurde von der SPD-Fraktion eingeladen, eine Rede zu halten. Fraktionschef Rolf Mützenich stellte den Gast als klugen und mutigen Politiker vor. Das Publikum applaudierte aufmunternd, als Kurti hinter das Pult trat. Er berichtete, was er alles erreichen wolle für sein Land. Und er sagte, dass seine Regierung das Recht auf gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften einführen wolle – im Zuge des kosovarischen Wunsches nach einer Mitgliedschaft im Europarat. „Wir werden hart daran arbeiten, dies in sehr naher Zukunft zu erreichen. Dafür werde ich persönlich eine parlamentarische Mehrheit aufbauen und an die Oppositionsparteien appellieren zwecks breiter Unterstützung.“
Will mit seiner Regierung das Recht auf gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften einführen: der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti
Das kam gut an beim sozialdemokratisch-urban geprägten Publikum in Berlin-Mitte. Als der Applaus sich gelegt hatte, beschrieb Kurti, warum seine Regierung diese Reform anstrebe: „Wir tun das, weil es richtig ist. Weil es ein Recht ist. Weil es in unserer Verfassung steht. Und weil wir wissen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Urteile gefällt hat, die das verlangen.“
Schon am Morgen des gleichen Tages hatte Kurti im Berliner Büro der Bertelsmann-Stiftung über das Thema gesprochen. Es gebe andere europäische Länder, wiederholte er wohl in Anspielung auf Serbien, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs einfach ignorierten. Seine Regierung wolle nicht in diese Kategorie fallen: „Das Kosovo wird anders sein. Wir wollen dadurch andere inspirieren.“
Laut Verfassung ist das Kosovo ein säkularer Staat
Großmufti Naim Tërnava: Er ist zwar gegen die Steinigung, doch der Gedanke, dass Frauen Frauen oder Männer Männer lieben, kommt für ihn dem Untergang des Morgenlandes nahe.
Sollte es wirklich so kommen, wäre das von einer Bedeutung, die weit über das Kosovo, den Balkan oder Europa hinausreichte. Nicht nur deshalb, weil das Kosovo in der Region erst das zweite Land nach Montenegro mit einer entsprechenden Gesetzgebung wäre. Das Kosovo wäre auch das erste – und bis auf Weiteres wohl für lange Zeit einzige – Land mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung, in dem gleichgeschlechtliche Paare ihre Lebensgemeinschaft vor dem Gesetz anerkennen lassen könnten.
Das wäre weit mehr als eine symbolische Veränderung, denn sie hätte für die Betroffenen viele positive Folgen. Im Erbrecht und im Steuerrecht, aber auch bei Fragen der Arbeitslosenversicherung oder der Gesundheitsfürsorge – und sogar im Strafrecht, denn Verheiratete müssen vor Gericht nicht gegen ihre Ehepartner aussagen. Die Neuerung beträfe auch das Auskunftsrecht, wenn etwa ein Partner im Krankenhaus liegt und lebenswichtige Entscheidungen zu fällen sind. Sollte Kurtis Vorhaben durchkommen, wäre das Kosovo das erste Land der islamischen Welt, in dem gleichgeschlechtliche Paare sich auf solche Rechte berufen könnten.
An dieser Stelle ließe sich freilich einwenden: Was soll das eigentlich sein, „die islamische Welt“? Und sofern es sie gibt, gehört das Kosovo überhaupt dazu?
Tatsächlich ist die Definition des Kosovos als muslimisches Land reichlich vage und kann ohne weitere Erklärungen sogar irreführend sein. Sie ist ungefähr so aufschlussreich wie die Aussage, dass Bayern ein christliches Bundesland sei. Zunächst einmal deshalb, weil das Kosovo laut seiner Verfassung ein säkularer Staat ist. Auch die Lebenswirklichkeit in Europas jüngstem Staat, der sich im Februar 2008 mit westlicher Hilfe für unabhängig von Serbien erklärte, entspricht dieser Definition. Der Ruf des Muezzins gehört in kosovarischen Städten zum Alltag wie das Glockengeläut in Niederbayern. Doch für die Mehrheit spielt der Islam im Alltag kaum eine Rolle. Wer zum Ramadan nach Prishtina kommt, wird die Fastenzeit kaum bemerken. Die Restaurants haben geöffnet wie immer, und die meisten Cafés servieren selbstverständlich Alkohol, darunter Bier und kosovarischen Wein. Es gibt auch keine islamistische Partei von Bedeutung im Kosovo. Wer als Politiker mit der Forderung nach einer Einführung der Scharia in den kosovarischen Wahlkampf zöge, würde eine krachende Niederlage erleiden – genauso wie jemand, der in Münster das Täuferreich wieder aufleben lassen wollte. Eine regelmäßige Teilnahme am Freitagsgebet, wie sie etwa der türkische Präsident Erdoğan praktiziert, ist für kosovarische Spitzenpolitiker nicht üblich. „Die Religion des Albaners ist das Albanertum“, lautet ein berühmter Satz, der zwar ein Klischee ist, aber immerhin treffend beschreibt, dass der Islam nicht das wichtigste Identitätsmerkmal ist.
Tausende Mitglieder der LGBTQ-Gemeinde nahmen am 10. Juni 2023 in Pristina an der Pride Parade teil.
Auch die orthodoxen Bischöfe aus Serbien sind dagegen
Andererseits stimmt es natürlich: Mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung des Kosovos sind Albaner, und eine Mehrheit dieser Mehrheit bekennt sich zum Islam, obwohl es im Kosovo wie in Albanien auch katholische Albaner gibt. Sollte die Regierung ihr Gesetz durchbringen, hätten gleichgeschlechtliche Paare im Kosovo also tatsächlich Rechte wie in keinem anderen Staat der Welt, in dem Muslime in der Mehrheit sind.
Es ist aber alles andere als sicher, dass Kurti, ein durch und durch säkularer Politiker, seine Ankündigung verwirklichen kann. Er hat es vor gut zwei Jahren schon einmal versucht – und scheiterte. Das war im März 2022, als das kosovarische Parlament zu einer Sitzung zusammenkam, um ein bürgerliches Gesetzbuch für das Kosovo zu verabschieden. Das Werk umfasste fast 1000 Seiten. Jahrelang hatten Fachleute aus dem Kosovo und mehreren europäischen Ländern daran gearbeitet. Es sollte das kosovarische Recht bündeln und harmonisieren. Doch das Gesetzbuch ist bis heute nicht in Kraft getreten – wegen einer einzigen Bestimmung. In Artikel 1138 heißt es: „Eingetragene Lebenspartnerschaften zwischen Personen des gleichen Geschlechts sind zulässig.“
An diesem Satz (und dem Zusatz, dass die Durchführungsbestimmungen durch ein separates Gesetz zu regeln seien) sei das gesamte Gesetzbuch gescheitert, sagt die kosovarische Menschenrechtsanwältin Rina Kika. „Es lag allein an Artikel 1138. Nur darüber wurde geredet.“ Die Mehrheit kam nicht zustande, weil mehr als ein Dutzend Abgeordnete von Kurtis Regierungspartei Vetëvendosje (Selbstbestimmung) ihrem Chef in dieser Frage die Gefolgschaft versagten und die Opposition sich fernhielt. Labinote Demi Murtezi, eine der wenigen Politikerinnen der Regierungspartei, die Kopftuch trägt, begründete ihre Ablehnung mit moralischen Bedenken: Eine Ehe könne nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden, alles andere sei als „verdorben und degeneriert“ zu betrachten, sagte sie. Ein anderer widerständiger Parlamentarier der Regierungsfraktion ließ durchblicken, er und seine Gesinnungsgenossen seien bereit, für das Gesetzbuch zu stimmen, sofern Artikel 1138 gestrichen werde.
Kurz vor der Abstimmung hatten die Oberhäupter mehrerer Konfessionen ein Zweckbündnis gebildet, um vor Artikel 1138 zu warnen. „Sie hatten noch nie eine gemeinsame Pressekonferenz zu irgendeinem Thema abgehalten. Sie hatten sich auch nie zu drängenden sozialen Fragen geäußert, etwa zur Gewalt gegen Frauen. Nun aber taten sie sich zusammen“, erinnert sich die Anwältin Kika. In ihrer gemeinsamen Erklärung warben die Oberhirten für den Schutz von Familienwerten und der traditionellen Ehe. Nur die serbische orthodoxe Kirche nahm nicht teil, da sie das Kosovo als Staat nicht anerkennt. Die orthodoxen Bischöfe aus Serbien sind natürlich ebenfalls gegen die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, wollen sich deswegen aber noch lange nicht mit den muslimischen oder gar katholischen Erzfeinden aus dem Kosovo an einen Tisch setzen. Denn sie mögen auch Heterosexuelle nicht, wenn die der falschen Religion oder Ethnie angehören.
Der bekannteste Wortführer der unorthodoxen abrahamitischen Ökumene ist Großmufti Naim Tërnava, seit mehr als zwei Jahrzehnten das geistige Oberhaupt der islamischen Gemeinde im Kosovo. Er ist zwar gegen die Steinigung (die sei Teil einer „rückständigen Wüstenkultur“), doch der Gedanke, dass Frauen Frauen oder Männer Männer lieben und am Ende gar noch heiraten könnten, kommt für ihn dem Untergang des Morgenlandes nahe.
Eine gute Gelegenheit für die Opposition
Erst kürzlich, zum Fest des Fastenbrechens am 10. April, warnte der Großmufti die Regierung vor einem weiteren Versuch, das Recht auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften einzuführen: Die traditionelle Familie sei der Kern der Nation, alles andere widerspreche der Identität und den moralischen Werten des Volkes: „Die Bemühungen in dieser Richtung zielen auf die Zerstörung der Familie, auf das Verschwinden oder die Schwächung der hohen Moral dieses Volkes ab, denn das Ziel ist eine Gesellschaft, die ohne Gefühle und emotionale Bindung an die Familie, die Verwandten, die Tradition, die Bräuche und den Stamm lebt.“ Die Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei, Mimoza Kusari-Lila, stellte daraufhin klar, dass Gesetze im Kosovo nicht in Moscheen, Kirchen oder Klöstern gemacht werden, sondern im Parlament.
Doch wird es dort im zweiten Anlauf eine Mehrheit für das Projekt geben? Oder wird der „islamische Flügel“ der Regierungspartei, wie ihn manche Medien in Prishtina nennen, die Reform verhindern? Menschenrechtsanwältin Kika ist sich nicht sicher, wirft aber ein: „Ich würde nicht von einem islamischen Flügel bei Vetëvendosje sprechen. Was es aber tatsächlich gibt, sind Leute, die Religion als Rechtfertigung einsetzen, um ein Gesetz über die Einführung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zu verhindern.“ Es gebe viele konservative Stimmen im Kosovo, nur habe das nicht zwangsläufig etwas mit dem Islam zu tun. „Manche nutzen die Religion für ihren Widerstand gegen Reformen, andere nicht.“ Andererseits wisse sie, dass es auch viele Oppositionsabgeordnete gebe, die eigentlich für das Gesetz stimmen wollen, aber von ihren Parteien aus taktischen Gründen abgehalten werden.
Das ist im Kosovo nicht anders als in anderen Demokratien: Für die Opposition ist der Konflikt eine gute Gelegenheit, die Regierungspartei unter Druck zu setzen und ihre Uneinigkeit vorzuführen, vielleicht gar Neuwahlen zu provozieren. Deswegen trage die Opposition ebenfalls Verantwortung für das bisherige Scheitern der Reform, kritisiert Kika und äußert einen frommen Wunsch: „Die Opposition sollte die Menschenrechte nicht machttaktischen Spielen opfern.“
Schon die Diskussion habe die Gesellschaft weitergebracht, glaubt Kika. „Die Debatten, auch in den Medien, waren ein wichtiger Schritt.“ Es sei besser, eine lebhafte und kontroverse Debatte zu führen, als im Eilverfahren ein Gesetz durchzupauken, das dann nicht implementiert werde. „Als Gesellschaft müssen wir diese Gespräche im Parlament führen – auch um zu verstehen, dass das Modell der herkömmlichen Familie durch gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht bedroht ist, wie es manche behaupten.“
Tatsächlich hat sich die kosovarische Gesellschaft innerhalb von nur einer Generation stark verändert. Die Lebenswirklichkeit im Kosovo 1999, als der Krieg zu Ende ging, die serbischen Truppen abzogen und mehr als 50.000 NATO-Soldaten ins Land kamen, ist mit der von heute kaum vergleichbar. Die kosovarische Gesellschaft ist weiterhin konservativ, aber viel weniger patriarchalisch. Das betrifft auch die Sichtbarkeit von Randgruppen. „Die Art, wie unsere Medien über diese Themen berichten, hat sich erheblich verändert“, sagt Kika. Sie nennt eine Staffel der kosovarischen Ausgabe von „Big Brother“ als Beispiel. Das sei zwar eine schrecklich billige Fernsehsendung, doch habe sie positiv auf die Gesellschaft eingewirkt, seit eine Transfrau teilnahm. Als die sich vor etwa zehn Jahren erstmals in der Öffentlichkeit zeigte, schlug ihr Hass entgegengeschlagen. „Aber dann wurde viel darüber gesprochen, und die Wahrnehmung ihr gegenüber hat sich im Laufe der Zeit und während ihrer Auftritte in dieser Show verändert“, sagt Kika.
Viele haben immer noch Angst
In der Innenstadt von Prishtina, unweit vom Mutter-Teresa-Platz und der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Sultan-Murad-Moschee, gibt es seit zwei Jahren sogar eine Bar, in der sich die queere Szene der Stadt offen trifft: Das „Bubble Pub“, geführt von einem Transmann und seinem Partner, ist vielleicht der deutlichste Beleg, dass sich sexuelle Minderheiten im Kosovo – oder zumindest in der kosovarischen Hauptstadt – nicht verstecken müssen. Das Pub hat sogar Shows mit Dragqueens aus Serbien organisiert. Die „multiethnische Zusammenarbeit“, welche die EU auf dem Balkan immer wieder fordert, funktioniert also im Milieu sexueller Minderheiten durchaus – ungefähr so gut wie unter den Kirchenführern, wenn es darum geht, diese Minderheiten zu bekämpfen.
Früher oder später, da ist sich Kika sicher, werde es im Kosovo zur Einführung der eingetragenen Partnerschaft oder sogar der „Ehe für alle“ kommen – schon deshalb, weil die Verfassung des Landes das vorschreibt. Das kosovarische Grundgesetz ist jung und basiert im Kern auf den Ideen des im vergangenen Jahr gestorbenen finnischen Politikers und Friedensnobelpreisträgers Martti Ahtisaari. Der ehemalige Präsident Finnlands hatte als Vermittler der Vereinten Nationen von 2007 bis 2008 die Modalitäten der kosovarischen Unabhängigkeit ausgehandelt. In der auf ihn und seine Mitarbeiter zurückgehenden Verfassung wird die Ehe nicht wie in vielen anderen Ländern als Bund zwischen Mann und Frau definiert, sondern als Recht, das „allen“ zustehe. Ein anderer Artikel legt ein umfassendes Diskriminierungsverbot fest, das auch Geschlecht und sexuelle Orientierung einschließt. Aus der Kombination dieser beiden Artikel ergibt sich, dass der kosovarische Staat gleichgeschlechtliche Partnerschaften rechtlich anerkennen muss.
Schon heute hätte ein gleichgeschlechtliches Paar, das vor das Verfassungsgericht zöge, gute Aussichten, glaubt Kika. Allerdings hat diesen Schritt bislang kein Paar gewagt. „Trotz aller Fortschritte ist die gesellschaftliche Akzeptanz von LGBTI-Personen im Kosovo nach wie vor gering. Und dies ist ein sehr kleines Land. Viele haben immer noch Angst, an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt Kika. Das erste Paar, das klagt, würde unweigerlich große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Mühlen der Justiz würden in diesem Fall nicht nur langsam, sondern auch äußerst laut mahlen.
Wenn sich jedoch ein solches Paar fände, stünde Kika bereit, es zu vertreten. „Ich suche nach einem solchen Paar.“ Dann wäre es am Verfassungsgericht,das Versprechen einzulösen, das der kosovarische Ministerpräsident in Berlin gegeben hat.