Peter Schneider hört auf und sagt, welche Frage er vermisst hat
Der Psychoanalytiker hat während 20 Jahren 1000 Fragen unserer Leserschaft beantwortet. Nun hört er auf und sagt, was ihn gefreut und genervt hat.
Die Schweizer Debattenkultur sei «noch ganz erträglich», findet Peter Schneider.
Herr Schneider, gab es unter den Fragen der Leserschaft eine konkrete Frage, die immer wieder gestellt wurde?
Wiederkehrende Fragen handelten von der Ruhe respektive fehlenden Ruhe im Ruheabteil, von Füssen auf dem Sitzplatz und vom Telefonieren im Tram.
Über welche Fragen freuten Sie sich am meisten?
Über solche mit gesellschaftlicher Relevanz. Mindestens okay war es aber auch, wenn ich philosophische oder psychologische Fragen erklären konnte.
Welche Fragen nervten oder langweilten Sie?
Über alle Fragen, die lediglich Benimmfragen waren, wie etwa die Ruheabteil-Frage. Einmal kann man auf so etwas durchaus vernünftig antworten; sie gingen mir aber schnell auch mal auf den Keks, weil sie immer in so einem kulturpessimistischen Tonfall gestellt wurden. Man spürte, dass die Leserinnen und Leser darauf warteten, dass ich ihnen bestätige, dass in diesen Fällen die Erziehung versagt habe. Auch ermüdend: Fragen, bei denen schon alle Implikationen falsch waren und gar nicht nach einer Antwort, sondern lediglich nach einer Bestätigung für seltsame Ansichten gesucht wurde.
Haben Sie solche Fragen dennoch beantwortet?
Sofern ich daran etwas Allgemeineres aufzeigen konnte: zum Beispiel, dass es bei den Fragen zu Mode und Benehmen um soziale Systeme, Distinktion und kulturelles Kapital geht. Einen Herrn, der mir erklärte, dass ich ein Wort (ich glaube, es war «Dystopie») verwendet hatte, das er trotz Konsultation seines Brockhaus nicht verstehen konnte, belehrte ich etwas schulmeisterlich, dass man sich auch grosse Mühe geben kann, etwas nicht zu verstehen. Er hätte ja auch einfach googeln können.
Was denken Sie, was die Leserinnen und Leser in Ihnen sahen?
Eine Art bildungsbürgerlichen Briefkastenonkel?
Und als was sahen Sie sich?
Zunächst als mittelalten, dann als einen älteren, freundlichen Herrn. Als eher antiautoritär gestimmten Empörungsmüllmann und -entsorger, als Gedankenklärer und -sortierer.
«Es hilft, Dinge in Verhältnissen zu betrachten und nicht nur als Entweder-oder.»
Haben Sie von der Leserschaft auch etwas gelernt?
Dass es nützlich ist, über eigene Gedanken und Positionen nachzudenken. Dass es hilft, Dinge auch quantitativ und in Verhältnissen zu betrachten und nicht nur als Entweder-oder.
Sie starteten mit «Fragen zur Philosophie des Alltagslebens». In den letzten Jahren kamen immer häufiger Fragen zu gesellschaftspolitischen Debatten hinzu. Lag das an Ihrer Auswahl – oder an den Fragestellungen der Leserschaft?
Das lag mehr an meiner Auswahl. Irgendwann entlockt man – wie gesagt – den sogenannten Alltagsfragen keine grössere Perspektive mehr und wird nur noch zum Stellungsnehmer in nicht besonders aufregenden Auseinandersetzungen.
Lassen sich die 20 Jahre in gewisse Themenkomplexe aufteilen? Welche Themen interessierten wann am meisten?
Dazu müsste ich mein Gesamtwerk, vor allem auch den Ordner «Unbeantwortete Fragen» noch einmal gründlich durchsehen, wozu mir die Musse fehlt. Ich glaube aber, dass dabei nicht viel Interessantes zur Themenverteilung zum Vorschein käme. Es ist wie in der psychoanalytischen Praxis: Da gibt es dieses «In letzter Zeit sehe ich immer öfter Patientinnen, die …» auch nicht.
Hat sich der Ton der Fragestellenden über die Jahre verändert?
Auch da kann ich mich an grössere Wandlungen oder Brüche nicht erinnern.
Kann man anhand der Leserschaftsfragen eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft feststellen?
Es gibt gewisse Fragen, die Symptom einer solchen Polarisierung, teils allerdings auch von weitgehend geteilter Empörung waren. Alles, was Transgender angeht, war weniger von Neugier auf sich vollziehende Veränderungen geprägt als von Positionsbezug gegen all das, was sich vor unseren Augen kaum übersehbar vollzieht. Siehe Nemo.
«Ich versuche, mich von Onlinekommentaren nicht zu sehr ins Bockshorn jagen zu lassen.»
Wie würden Sie den Zustand der Schweizer Debattenkultur beschreiben?
Wenn man sich nicht gerade aufregen muss über antiwoke Putin-Versteher und antizionistischen Antisemitismus, der sich immer wieder an der Frage aufgeilt, was man an Israel denn überhaupt kritisieren dürfe, ist es eigentlich noch ganz erträglich. Ich versuche, mich zum Beispiel von diesbezüglichen Onlinekommentaren nicht zu sehr ins Bockshorn jagen zu lassen.
Das prägende Debattenmerkmal von heute ist tatsächlich das bereits erwähnte «Entweder-oder», welches sich zum Kulturkampf ausweitete. Wie kommen wir davon wieder weg?
Realistischerweise muss ich sagen: So schnell kommen wir davon nicht weg. Denn gerade der Antiwokeismus ist ein bedeutender Kitt des globalen Rechtsrucks und Autoritarismus. Dieses Wüten gegen Gender-Gaga, Transideologie, Cancel-Culture hat teils irre Formen angenommen. Während zum Beispiel in Russland die «Werbung» für Homosexualität kriminalisiert wird und in manchen Staaten der USA von rechter Seite Bibliotheken von verstörenden Büchern bereinigt werden, tut man so, als sei die westliche Welt in erster Linie vom Wokeismus bedroht.
Wokeness und Cancel-Culture sind natürlich auch Kampfbegriffe. Aber es gibt ja auch konkrete Fälle dahinter.
Agniszka Graff und Elbieta Korolczuk, deren Buch «Anti-Gender-Politik im populistischen Zeitgeist» Dana Mahr, Alexandra Papadopoulos und ich in deutscher Übersetzung herausgegeben haben, sprechen von den Versatzstücken des Antiwokeismus als «opportunistischen Synergien», die von rechtsautoritären Regierungen auf ganz unterschiedliche Arten als ideologischer Kitt verwendet würden. Dieser Kitt ist flexibel und vor allem sehr klebrig und hält alles zusammen, was die grosse Erzählung vom «echten» Volk versus Eliten zu bieten hat. Gegen diese Ideologie muss man ankämpfen und sich dabei notfalls den Mund fusselig reden. Das ist mühsam und frustrierend, nicht so clickheischend wie skandalisierende Berichte über den Woke-Wahn, aber unerlässlich.
20 Jahre, über 1000 Fragen und 1000 Antworten: Gibt es eine Frage, die Sie vermisst haben?
Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nicht?
Und die Antwort darauf?
Woher soll ich das wissen?
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