Keine Pässe, keine Termine: So erhöht die Ukraine den Druck auf Wehrfähige im Ausland
Um neue Soldaten zu rekrutieren, geben ukrainische Botschaften keine Pässe mehr an wehrfähige Männer im Ausland aus. Kann Kiew so seine Schlagkraft erhöhen?
Ukrainische Soldaten stehen auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Kiew neben ukrainischen Flaggen und Fotos, die zum Gedenken an im Krieg gefallene Zivilisten und Soldaten aufgestellt wurden.
In ukrainischen Botschaften und Konsulaten hängen neuerdings Zettel aus: Wer zwischen 18 und 60 Jahren alt ist, bekommt keine neuen Dokumente, heißt es darauf.
Die Ukraine macht Ernst: Im Zuge ihrer Mobilisierungskampagne versucht sie derzeit gezielt, Wehrpflichtige aus dem Ausland anzuwerben. Seit dem 23. April gilt bei ukrainischen Botschaften und Konsulaten die Devise, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren keine Konsularleistungen mehr erhalten. Einen neuen Pass können sie künftig also nur noch in ihrem Heimatland erhalten − von dort dürfen sie seit Kriegsbeginn aber nicht mehr ausreisen.
Neben einem Mangel an Munition und Panzern sind fehlende Soldaten schon längst zum Problem geworden für die ukrainische Armee. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 verließen zahlreiche wehrfähige Männer das Land. Jugendliche, die im Ausland leben, sind in den über zwei Kriegsjahren volljährig geworden und erfüllen mittlerweile die Voraussetzungen, um eingezogen zu werden. Doch nur wenige sind freiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrt.
Rund 200.000 wehrfähige Ukrainer in Deutschland
Die Zahl der in Deutschland lebenden Ukrainer:innen ist seit Kriegsausbruch massiv gestiegen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten Ende November 2023 rund 1.157.000 Ukrainer:innen in Deutschland, knapp 40 Prozent sind männlich. Etwa 200.000 wehrfähige Männer halten sich Schätzungen zufolge hierzulande auf.
Bestehende Aufenthaltserlaubnisse gelten bis dahin fort, ohne dass ein Antrag auf Verlängerung notwendig ist.
Pauline Endres de Oliveira, Professorin für Recht und Migration an der Humboldt-Universität
Ohne Pass können schnell Probleme auftreten, etwa beim Abschluss von Arbeits- und Mietverträgen oder auf Reisen. Dazu kommt, dass in Deutschland die Passpflicht gilt: Wer 16 Jahre oder älter ist, muss einen Identitätsnachweis besitzen. Wenn Deutschland die Passpflicht ernst nimmt, müssten ukrainische Männer mit abgelaufenen Dokumenten also in ihre Heimat zurückkehren, um sich dort einen neuen zu besorgen.
Die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl kritisiert, dass Anträge von Kriegsdienstverweigerern im Ausland vorerst nicht bearbeitet werden. „Es wird große Auswirkungen nicht nur auf die Aufenthaltssituation der Kriegsdienstverweigerer haben“, sagt Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl dem Tagesspiegel. Auch bei anderen Angelegenheiten, für die man gültige Reisepässe braucht, wie Eheschließung oder Scheidung, werde es Probleme geben.
Innenministerium: Keine Auswirkungen auf Schutzstatus
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte sich die EU großzügig gezeigt: Über die sogenannte „Massenzustrom-Richtlinie“ erhielten Hunderttausende Ukrainer:innen unbürokratisch einen Aufenthaltsstatus. In Deutschland sind ihre Aufenthaltserlaubnisse bis zum 4. März 2025 gültig. Die geänderte Praxis der Konsulate wirke sich nicht auf den Schutzstatus aus, hieß es aus dem Innenministerium.
Pauline Endres de Oliveira, Professorin für Recht und Migration an der Humboldt-Universität, geht nicht davon aus, dass Ukrainer ohne Identitätsnachweis hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus demnächst Probleme bekommen werden − jedenfalls bis März 2025.
„Bestehende Aufenthaltserlaubnisse gelten bis dahin fort, ohne dass ein Antrag auf Verlängerung − und demnach eine erneute Passvorlage − notwendig ist“, sagt die Juristin dem Tagesspiegel. Doch auch sie betont, dass Identitätsdokumente auch außerhalb des aufenthaltsrechtlichen Verfahrens Bedeutung haben, etwa bei Auslandsreisen.
Die vorübergehende Einstellung von Konsularleistungen ist nur eine von mehreren Maßnahmen, die das neue Mobilisierungsgesetz vorsieht, das im Mai in Kraft treten wird. Um potenzielle Soldaten zurückzuholen, zählt die Ukraine auf die Unterstützung ihrer Partnerländer − doch die tun sich schwer damit.
In der Union zeigt man sich offen dafür, der Ukraine bei ihrem Vorhaben zu helfen. Schon vor einigen Monaten brachte der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter (CDU) auch Bürgergeldkürzungen für ukrainische Kriegsdienstverweigerer ins Gespräch, um Druck auf diese auszuüben. Doch dafür erhielt Kiesewetter wenig Zuspruch.
Wird Deutschland Ersatzpapiere erteilen?
Erste Ukrainer haben bereits Ersatzpapiere bei deutschen Behörden beantragt. Würden diese erteilt, wären Betroffene nicht mehr auf die ukrainischen Pässe angewiesen. Doch Deutschland würde damit die ukrainische Regierung vor den Kopf stoßen.
Aus Polen hört man derweil ganz andere Töne: Der polnische Verteidigungsminister und stellvertretende Ministerpräsident Wladyslaw Kosiniak-Kamysz sagte, sein Land werde „alle notwendigen Schritte“ unternehmen, um die Ukraine bei der Rückführung potenzieller Soldaten zu unterstützen. Schon länger wird in Polen darüber diskutiert, den Zugang zu Sozialleistungen und Arbeitsgenehmigungen zu beschränken, um den Druck auf wehrpflichtige Ukrainer zu erhöhen.
Auch Litauen erwägt solche Schritte. Nach Berichten des Nachrichtenportals „delfi.en“ sagte Verteidigungsminister Laurynas Kasčiūnas, sein Land habe noch keine konkreten Maßnahmen ergriffen, werde aber beobachten, was Polen als Nächstes tut und dann möglicherweise nachziehen.
Auch in Estland ist man willens, wehrfähige Männer auszuliefern. „Wir sind bereit, bei Bedarf beim Transport dieser Menschen von Estland in die Ukraine zu helfen“, erklärte Estlands Innenminister Lauri Läänemets bereits Ende des vergangenen Jahres.
„Im Ausland zu sein entbindet einen Bürger nicht von seinen Pflichten gegenüber dem Heimatland“, schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba dazu vor wenigen Tagen auf X. „Wer glaubt, man könne im Ausland bleiben und dort Dienstleistungen vom Staat erhalten, während andere an der Front kämpfen und ihr Leben für diesen Staat riskieren – dem sage ich, das funktioniert so nicht.“