Kein Vertrauen in die Eliten: Wenn „mehr direkte Demokratie“ zur Diktatur führen kann
Björn Höcke von der AfD
Die Zahl der Demokratien geht seit einiger Zeit weltweit zurück und mehr und mehr Menschen leben in Ländern, die nicht demokratisch regiert werden. Unklar ist nur, warum das so ist – und was man dagegen tun kann. Oder, um es mit anderen Worten auszudrücken: Wer ist denn da verrückt geworden, die Bürger oder die, die sie regieren? Denn Demokratie ist für beide gut, auch wenn ihnen das nicht immer ganz klar ist. Die einfachen Bürger schützt Demokratie vor der Willkür der Herrschenden. Wenn die einfach durchregieren und dabei die Grundrechte ihrer Bürger verletzen, können diese vor Gericht ziehen. Funktioniert der Rechtsstaat, bekommen die Regierung, der Bürgermeister oder die Polizei vom Gericht was auf die Finger. Außer, die Justiz ist korrupt oder das Land autoritär – dann bekommt im Zweifelsfall der recht, der die Macht hat.
Das klingt so, als sei Demokratie gut für die Regierenden, aber das täuscht. Es ist nur solange gut für sie, wie sie an der Macht sind. Verlieren sie die, werden alle diejenigen, die sie unterdrückt und benachteiligt haben, versuchen, sich an ihnen zu rächen. Ist das Land autoritär, trifft sie die harte Hand der neuen Regierung mit voller Härte. So passiert das dann meistens nach einem Militärputsch: Die neuen Machthaber werfen die alten ins Gefängnis, jagen sie in die Emigration, enteignen sie und ihre Helfer und Verwandten oder lassen die alten Herrscher sogar einfach hinrichten. Nur in Demokratien geht das nicht so einfach: Da entscheiden dann unabhängige Richter über die Strafe und die alten Machthaber haben das Recht auf einen Anwalt und auf ein faires Verfahren.
Wenn Demokratie so viele Vorteile hat, warum ist sie dann auf dem Rückzug? Weil die Herrschenden das so wollen oder weil die Beherrschten die Nase voll davon haben? Die bundesdeutsche Debatte über populistische Wahlerfolge, Politverdrossenheit und Demokratie-Skepsis in Ostdeutschland suggeriert: Da ist was an der Basis kaputtgegangen. Wenn in manchen Ländern eine Partei, die von allen anderen Parteien für undemokratisch gehalten wird, so viel Unterstützung hat, dass sie nach den Landtagswahlen vielleicht regieren kann, dann haben offenbar die Wähler ein Problem mit der Demokratie. Das mag für einzelne Länder und Wählergruppen stimmen – den weltweiten Trend weg von der Demokratie erklärt es aber nicht. Der hat nämlich ganz andere Ursachen.
Ziemlich populär: Alice Weidel
Die einschlägigen Demokratie-Erhebungen ermitteln in der Regel nur, ob die Befragten „Demokratie für die bestmögliche Regierungsform halten“ und ob sie mit dem Funktionieren der Demokratie in ihrem Land (und in Europa, auch in der EU) zufrieden sind. Das liefert selten Überraschungen: Selbst in undemokratischen Ländern ist oft eine Mehrheit für die Demokratie, manchmal, weil sie ihr Land selbst irrtümlich für eine Demokratie halten, manchmal, weil sie die Diktatur, in der sie leben, gerne abschaffen möchten.
Interessanter wird’s, wenn man danach fragt, was die Befragten denn so unter Demokratie verstehen. Forscher des „European Social Survey“ haben das getan und dabei große Unterschiede zwischen den Ländern und sogar zwischen den Wählerschaften der einzelnen Parteien festgestellt. In West- und Nordeuropa dominiert demnach das liberale Demokratiemodell: Dort verlangt die Mehrheit nicht nur Wahlen, sondern auch Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit vor dem Recht und Meinungs- und Pressefreiheit. Im Osten Europas dagegen haben die Befragten viel höhere Ansprüche: Der Staat soll auch für wirtschaftliche und soziale Gleichheit sorgen, ihnen eine direkte Beteiligung an Entscheidungen über Referenden ermöglichen und die Armut zum Verschwinden bringen.
Das klingt gut, doch der Teufel steckt im Detail: Mit Referenden kann man eine Regierung viel schlechter kontrollieren als durch eine unabhängige Justiz und Institutionen, die den Regierenden auf die Finger sehen und ihnen, falls sie über die Stränge schlagen, auch auf dieselben klopfen. Referenden sind dagegen ein ausgezeichnetes Mittel, die Macht einer Regierung zu erweitern und die öffentliche Meinung zu manipulieren: Die Regierung oder ihre Parlamentsmehrheit entscheiden, über welche Fragen abgestimmt wird und wann und wie die Fragen formuliert sind. Und steht das Ergebnis erst fest, machen nicht die Bürger, die Gesellschaft oder die Nation daraus ein Gesetz, sondern die Regierungsmehrheit im Parlament.
Jaroslaw Kaczynski: Bevorzugt ein autoritäres Demokratiemodell
Im östlichen Europa gibt es auch viel mehr Unterstützung für einen Führer, der über dem Gesetz steht und so durchregieren kann. Demokratie bedeutet dann einfach nur Mehrheitsherrschaft ohne Minderheitenschutz und ohne Kontrollinstanzen für die Regierenden. Übertrieben formuliert, wählen sich die Bürger dann alle vier oder fünf Jahre einen Quasi-Diktator, der machen kann, was er will, bis er dann wieder abgewählt wird. Wir wissen allerdings aus Lateinamerika, dass so ein Quasi-Diktator oft seine Macht dafür nutzt, für Verhältnisse zu sorgen, unter denen er dann kaum noch abgewählt werden kann. Er kann den Staatshaushalt zum Stimmenkauf einsetzen und so kurzzeitig für mehr Gleichheit und weniger Armut, aber langfristig für höhere Schulden, Währungsverfall und mehr strukturelle Ungleichheit sorgen. Wenn das den Leuten klar wird, ist aus dem Quasi-Diktator meist schon ein richtiger Diktator geworden, den man nur noch mit Gewalt absetzen kann. Das ist das autoritäre Demokratie-Modell, wie es in Lateinamerikas Präsidial-Demokratien vorherrscht. Wie leicht die dann in offene Diktaturen umschlagen, konnte man die letzten Jahre in Venezuela und einigen mittelamerikanischen Staaten beobachten, aber auch in Serbien, Belarus oder Tunesien.
Wer zu hohe Ansprüche an die Demokratie hat, wird natürlich schnell enttäuscht und wählt dann autoritäre Kandidaten. Das stimmt auch tatsächlich in Bezug auf die Wählerschaft populistischer und rechtsradikaler Parteien, wie der AfD, der ungarischen Fidesz und der polnischen PiS. Für den Rest gilt das aber nicht – weder in Europa, noch anderswo. Die Wählerschaften von deren Gegnern – den liberalen, linken und konservativen Parteien – haben nämlich wesentlich geringere Anforderungen an die Demokratie als die der Populisten und sind deshalb auch weniger enttäuscht von dem, was zwischen den Wahlen so abläuft.
Die Gründe für die Demokratiekrise weltweit liegen woanders. Nicht bei den Wählern der Populisten, nicht bei den anderen Wählern, sondern in den politischen Eliten selbst. Ein Teil dieser Eliten schürt nämlich diese Unzufriedenheit ihrer Wähler absichtlich, wohl wissend von deren hohen Erwartungen, die keine Demokratie erfüllen kann. Diese Politiker gerieren sich dann als Außenseiter, als Fürsprecher des einfachen, ehrlichen Mannes, den sie angeblich vor den Machenschaften korrupter und fremder Eliten schützen, die angeblich nur an sich selbst denken.
Sie tun das, obwohl sie selbst so gut wie immer zum politischen Establishment ihres Landes gehören, nur dass sie das gerne unter den Teppich kehren, weil dann diese Dichotomie zwischen „uns, den Verteidigern des einfachen Mannes“ und „diesen korrupten, abgehobenen Machthabern“ nicht mehr funktionieren würde. Aber sowohl Viktor Orbán als auch Jarosław Kaczyński, Marine Le Pen und ihr Vater Jean-Marie, Filip Dewinter, Geert Wilders, Robert Fico gehörten alle jahrzehntelang zum politischen Establishment ihres Landes, waren Abgeordnete, Präsidentschaftskandidaten, Regierungsmitglieder oder mindestens Mitglieder eines Regional- oder Stadtparlaments. Wirkliche Außenseiter gibt es in der Politik ganz selten; um in der Politik Erfolg zu haben, muss man bekannt sein, Verbindungen und Geld haben, den Umgang mit Medien gewohnt sein. Vielleicht können in den USA Tellerwäscher Millionäre werden, Präsidenten, Kongressabgeordnete oder Gouverneure werden Tellerwäscher so gut wie nie.
Die Sage vom angeblichen Außenseiter, der das Volk gegen „die da oben“ verteidigt, ist also reine Fiktion – aber sie funktioniert. Nur dass diejenigen, die sie verbreiten, bald vor einem Problem stehen: auch sie können die hohen Erwartungen ihrer Unterstützer nicht erfüllen. Um nicht wieder abgewählt zu werden, müssen sie erfolgreich den Anschein erwecken, als würden sie das tun. Das geht nur, wenn Institutionen, die gegründet wurden, um die Regierenden zu kontrollieren, entmachtet und die Pressefreiheit abgeschafft wird. Dann können die Regierenden einigermaßen erfolgreich den Eindruck erwecken, ihre Wahlversprechen einzuhalten. Das funktioniert – und hat die absurde Folge, dass zugleich die Unterstützung für die Demokratie im Volk zurückgeht. Man könnte es das afrikanische Paradox nennen; afrikanisch deshalb, weil die Daten dazu aus jenen Ländern stammen, in denen in den letzten Jahren die Demokratie abgeschafft wurde.
Viele Beobachter, die beispielsweise den Putsch in Niger, Gabun und Burkina Faso kommentierten, kamen zum Schluss, die Militärs dort hätten geputscht, weil es in der Bevölkerung eine große Unzufriedenheit mit der Demokratie gegeben habe. Logisch wäre das: egal, wie niedrig die Ansprüche an Demokratie auch sein mögen, in keinem dieser Länder wurden sie erfüllt. Jetzt kommt das nächste Paradox: ganz besonders wenig wurden sie in Gabun erfüllt, wo seit Jahrzehnten ein völlig korrupter Familienclan herrschte, der die Wahlen beliebig manipulierte. Aber dort blieb die Unterstützung für die Demokratie selbst nach dem Putsch stabil und mit über 70 Prozent auf einem beeindruckend hohen Niveau. Diese Zahlen entstammen dem Afrobarometer, einem mehrjährigen Umfrageprogramm, an dem viele afrikanische Länder teilnehmen.
Das Afrika-Paradox zeigt sich nicht in Gabun, sondern in den anderen Ländern, in denen kürzliche geputscht wurde. Dort ging durch die Bank die Unterstützung für die Demokratie zurück – wohl gemerkt, nachdem sie abgeschafft worden war, nicht davor. Kais Saied, der ursprünglich demokratisch gewählte Präsident Tunesiens, entmachtete also nicht das Parlament und richtete eine Präsidialdiktatur ein, weil die Tunesier von der Demokratie enttäuscht waren. Nein, er griff erst nach der Macht, gängelte die Presse, verfolgte die Opposition, bis die Unterstützung für die Demokratie in den Umfragen immer weiter zurückging. Im Vergleich zur letzten Umfragewelle von 2011 bis 2013 ging sie so im letzten Afrobarometer um sage und schreibe 24 Prozentpunkte zurück.
Das Gleiche geschah in Burkina Faso, wo das Militär im September 2022 putschte und die Demokratie-Unterstützung in den Umfragen daraufhin von über 70 auf 55 Prozent absank und in Mali, wo der Putsch von 2020 die Anzahl derjenigen, die Demokratie als die bestmögliche Regierungsform ansahen, von 62 auf 38 Prozent sinken ließ. In Niger putschte das Militär 2023; dort sank die Unterstützung für die Demokratie nur von 64,3 auf 61,4 Prozent.
Demonstranten in Nigers Hauptstadt Niamey 2023 nach dem Militärputsch im vergangenen Sommer. Der Niger wendet sich wie zuvor seine Nachbarn Mali und Burkina Faso von den westlichen Partnern, insbesondere Ex-Kolonialmacht Frankreich, ab und Russland zu.
Die Schlussfolgerung aus diesen Daten ist also nicht, dass die Demokratie auf dem Rückzug ist, weil sich die Bürger von ihr abwenden. Eine Umfrage des Pew Research Institutes in 38 Ländern (die alle mehr oder weniger demokratisch regiert wurden) fand schon 2017 eine überwältigende Unterstützung für „repräsentative Demokratie“ (78 Prozent) verglichen mit „direkter Demokratie“ (66 Prozent). Andere Vorschläge wie eine Herrschaft von Fachleuten, eines „starken Führers“ oder „des Militärs“ oszillierten zwischen 24 und 49 Prozent Unterstützung, hatten aber deutlich mehr Gegner als Befürworter. Militärdiktaturen will eigentlich kaum jemand, nicht einmal in arabischen Ländern, von denen kein einziges mehr demokratisch ist, gibt es dafür Mehrheiten. Wäre es anders, könnten die Diktatoren ja auch Wahlen abhalten. Viele Bürger wollen dagegen eine plebiszitäre oder autoritäre Demokratie mit einer starken Regierung, ohne dabei zu ahnen, dass das momentan der einfachste Weg zur Abschaffung der Demokratie ist.
Das führt zu einigen scheinbar widersinnigen Schlussfolgerungen. Zum ersten müssen demokratische Politiker, solange sie an der Macht sind, jene Institutionen stärken, die sie kontrollieren und ihre Macht einschränken – damit diese Institutionen stark genug sind, nach einem Machtwechsel auch die Befürworter einer autoritären, plebiszitären oder populistischen Demokratie in die Schranken zu weisen.
Das ist viel verlangt: Politiker, die demokratisch gewählt wurden, müssen um der Demokratie willen ihre eigene Macht begrenzen und sich selbst an die Kandare legen. Wie das funktioniert, haben wir hier schon einmal am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit und daran durchexerziert, wie man sie vor dem Einfluss der AfD schützen kann. Für die Anhänger der liberalen Demokratie heißt das, sich nicht von Slogans über direkte Demokratie und Volksabstimmungen aufs Glatteis führen zu lassen. Dass „mehr direkte Demokratie“ unter Umständen zur Abschaffung der Demokratie selbst führen kann, dürfte inzwischen vielen Venezolanern, Türken und Belarussen klar geworden sein, deren Präsidenten ihre Machtfülle vor allem geschickt manipulierten Volksabstimmungen verdanken. In Europa ist das eine Erkenntnis, die so widersinnig klingt, dass sie wenig Chancen auf Akzeptanz hat.
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