Kaija Saariahos Oper „Émilie“ wird in Mainz erstaufgeführt
Vervierfachte Mono-Oper: Die Sängerin Maren Schwier während der Probe im Großen Haus des Staatstheaters Mainz.
Bewahren wir uns vor dem Ehrgeiz, und vor allem seien wir uns klar darüber, was wir sein wollen. Entscheiden wir uns für den Weg, den wir einschlagen wollen, um unser Leben zu verbringen, und streben wir danach, ihn mit Blumen zu besäen.“ Am Staatstheater Mainz gibt es neuerdings sehr viele Fans der klugen Ratschläge der Émilie du Châtelet (1706 bis 1749). Den vielen Ratgebern von heute, zu Achtsamkeit, Resilienz und geglücktem Leben, können sie locker das Wasser reichen.
Das findet auch Generalmusikdirektor Hermann Bäumer, der das schmale Bändchen, auf Deutsch in einer hübschen Ausgabe mitsamt einiger Liebesbriefe erstmals 1999 in der Friedenauer Presse erschienen und mittlerweile in achter Auflage erhältlich, oft und gerne zur Hand nimmt. Und es beherzt weiterempfiehlt. „Um glücklich zu sein, muss man sich von Vorurteilen befreit haben, tugendhaft und gesund sein, soll Vorlieben und Leidenschaften haben und für die Illusion empfänglich sein. Denn wir schulden den Großteil unserer Vergnügen der Illusion, unglücklich ist, wer sie verliert“: Starke Sätze für eine Frau, die ganz der Vernunft verpflichtet gewesen ist. Und die doch gewusst hat, dass ohne die Süße der Illusion das Leben eine arg fade Sache ist. Ohne die Liebe auch. Also hat sie sich, mit kühlem Kopf und heißem Herzen, in beides gestürzt.
Châtelet, früh verheiratet mit einem Marquis, der ihr den Stand sicherte und dem sie pflichtschuldig drei Kinder gebar, um sich danach umso intensiver in Affären und die Forschung zu stürzen, hat in der Wissenschaft und der „Gelehrsamkeit“ ihre Erfüllung gefunden. Als Mathematikerin, Physikerin und Philosophin war sie eine der wenigen Frauen des 18. Jahrhunderts, die, anerkannt von den großen Denkern ihrer Zeit, geforscht und geschrieben hat.
„Sie hat ein sehr ungewöhnliches Leben geführt“, sagt die Mainzer Opern-Chefdramaturgin Sonja Westerbeck, „in ihren wissenschaftlichen Phasen ungeheuer diszipliniert, beinahe autistisch – und dann wieder ganz leidenschaftlich.“ Die „Rede vom Glück“ fasziniert auch Westerbeck, „im besten Sinne modern“ sei die Schrift. Wenn am 11. Mai Kaija Saariahos (1952 bis 2023) Musiktheater „Émilie“ in deutscher Erstaufführung am Staatstheater Premiere hat, wird Westerbeck der „Rede vom Glück“ und dem Leben der Châtelet einen eigenen Abend widmen. Wie Bäumer ist sie fasziniert von dieser Person, die ihnen durch die Arbeit an der Kurzoper Saariahos nahegekommen ist.
Émilie du Châtelet hat Abhandlungen und ein Grundlagenwerk der Physik verfasst, eine Schriftstellerin aber ist sie nicht gewesen. Ihren „Discours sur le bonheur“, den sie um ihr vierzigstes Lebensjahr herum verfasst haben muss, hat sie zu Lebzeiten nie veröffentlicht. Vor allem als die Übersetzerin von Isaac Newtons „Principia mathematica“ ist sie in die Geschichte eingegangen. Denn sie hat nicht nur dessen Werk aus dem Lateinischen ins Französische übertragen, sondern auch Newtons Rechenmethode hin zu den Grundlagen der Analysis überführt.
Sind entflammt für Émilie du Châtelet und für Saariahos „Émilie“: Chefdramaturgin Sonja Westerbeck und Generalmusikdirektor Hermann Bäumer beim Probengespräch
„Émilie Newtonmania“, wie sie sich selbst nannte, teilte ihre Leidenschaften mit einem ebenbürtigen Geist: 1733 lernte sie Voltaire (1694 bis 1778) kennen, als Liebes- und Gelehrtenpaar errichteten die beiden auf Schloss Cirey eine Oase der Wissenschaft und der Künste. Das Schloss gehörte Émilies Ehemann, der knapp bei Kasse war, den Umbau samt Labor und einer Bibliothek mit mehr als 20.000 Bänden finanzierte der überaus solvente Voltaire. Selbst als beide längst anderweitig liiert waren, verband sie, bis zu Émilies frühem Tod, eine Lebens- und Denkgemeinschaft. 1748 verfiel Émilie, im Grunde ihren eigenen Maximen zum Trotz, in eine heftige Leidenschaft zu dem zehn Jahre jüngeren Jean-François de Saint-Lambert. 1749 erwartete sie sein Kind. Dass eine Geburt im Alter von 43 Jahren ihr Tod sein könnte, ahnte sie früh, umso eifriger stürzte sie sich in die letzten Arbeiten an ihrer Newton-Übersetzung. Eine Woche nach der Geburt ihrer Tochter starb sie am Kindbettfieber, an ihrem Totenbett Voltaire, Saint-Lambert, ihr Ehemann und Stanisław Leszczyński, der einstige König von Polen, allesamt aufgelöst in Trauer um die „göttliche Émilie“.
Physikerin und Philosophin: Émilie du Châtelet (1706 bis 1749) war eine außergewöhnliche Frau. Ihr ist Kaija Saariahos Oper gewidmet.
Stoff für einen Roman – oder eine Oper, wie sie die finnische Komponistin Saariaho geschrieben hat. 2010 wurde „Émilie“ in Lyon uraufgeführt, im selben Jahr war Saariaho, die unter anderem bei den Darmstädter Ferienkursen studiert hatte, das Komponistenporträt des Rheingau Musik Festivals gewidmet.
Das Typische von Saariahos Musikstil ist auch ihrer dritten Oper „Émilie“ eingeschrieben: zeitgenössisch, mit feinen Linien des Wohlklangs, die dem Erzählen und dem Gesang regelrecht dienen, das, was kompliziert ist, sieht man mehr in der Partitur, im Gesamtklang entsteht bisweilen regelrecht Schmeichelndes, allerdings mit gehörigen Unterströmungen von Gefahr und Vorahnung.
Mit dem Einsatz des Cembalos dockt Saariaho an das 18. Jahrhundert an, mit elektronischen Verfremdungen der Sopranstimme an die einst als männlich verstandenen Ambitionen Émilies. Denn „Émilie“ erzählt von den letzten Momenten vor der Niederkunft, vom Drang nach Wissenschaft, Selbstbestimmung, Liebe – und von der Todesahnung.
Es sei ein letzter Monolog, den die Oper zeige, sagt Westerbeck. Die ganze Geschichte der Châtelet werde nicht erzählt, aber die Facetten schienen auf. Und nicht zuletzt, sagt Bäumer, setze die Oper ein Zeichen für die schöpferischen Frauen. Man merke den drei Sängerinnen Julietta Aleksanyan, Alexandra Samoulidou und Maren Schwier an, dass sie sich mit der Geschichte und Person Émilies gut auseinandersetzen könnten – „was nicht für alle Opern der Fall ist“. Ein bisschen könne „Émilie“ auch ein persönliches Werk sein: Als komponierende Frau bekomme man in einer immer noch männlich geprägten Musikwelt auch gesagt, man schaffe das nicht und müsse sich durchsetzen.
Das ist Saariaho gelungen. Als die Finnin am 2. Juni 2023 in ihrer Wahlheimat Paris starb, unter großer Anteilnahme der Musikwelt, war sie eine der meistaufgeführten zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten. Bäumer hat ihre Oper „Adriana Mater“ in seiner vorigen Stelle am Theater Osnabrück aufgeführt, damals reiste Saariaho zu den Endproben und zur Premiere an. „Wenn man sie sah und ein paar Worte mit ihr wechselte, machte es klick, und dann dachte man, jetzt habe ich es verstanden“, erinnert sich Bäumer an die Begegnung. Es sei „extrem traurig“, dass die Komponistin nicht mehr erleben könne, was in Mainz entstanden sei. Als er die Oper plante, damals, noch in der Corona-Zeit, und nach einem Werk suchte, das ohne Chor und nicht zu lang sein sollte, war Saariaho schon schwer krank: „Ich hätte sie gern noch einige Dinge gefragt.“
Denn Saariaho hatte nicht nur noch nach der Drucklegung des Werkes Änderungen an der Oper vorgenommen. Bäumer hatte auch ihre persönliche Zustimmung eingeholt, die ursprünglich für einen Sopran geschriebene Partitur auf drei Stimmen und eine Tänzerin aufzuteilen. „Wenn es ein gutes Konzept ist“, habe Saariaho gesagt – und dann zugestimmt. Was für das Konzept des Regisseurs Immo Karaman spricht, der sich für den Raum und die vierfache Hauptfigur eine besondere Lösung ausgedacht hat.
Mit zeitgenössischen Werken, und zumal denen von Frauen, hat Mainz in den vergangenen Spielzeiten viel Erfolg gehabt. Die Neugier, die Offenheit sei deutlich spürbar, sagt auch Westerbeck. Man müsse das Vertrauen des Publikums gewinnen, ergänzt Bäumer, der das Mainstream-Repertoire für erschöpft hält und für eine Mischung der Musiksprachen in jeder Spielzeit plädiert – samt seiner innigen Neigung zum Zeitgenössischen und zu nordischen Komponistinnen und Komponisten. In Mainz vertraue das Publikum dem, was das künstlerische Team aussuche. Und mit der Wahl habe man oft „Glück gehabt“, sagt Bäumer. Wie schreibt Émilie du Châtelet? „Man ist nur dank erfüllter Wünsche glücklich.“
„Émilie“, Premiere am Staatstheater Mainz am 11. Mai um 19.30 Uhr