INTERVIEW - «Antisemitismus gehört mittlerweile zum kulturellen Code», sagt Lars Henrik Gass
«Wir hatten im letzten Jahr einen Programmteil, der ausschliesslich palästinensischen Positionen gewidmet war», sagt Lars Henrik Gass. Tom Thoene / Imago
Oberhausen ist Ruhrpott. Alte Industrie- und Arbeiterstadt. Der Kiosk heisst hier «Trinkhalle», gegessen wird im «Uerige Treff». Kein Chichi, aber auch notorisch pleite: Oberhausen sei das «deutsche Detroit», liest man. Im Pärklein etwas abseits der Innenstadt haben die Oberhauser Kurzfilmtage in einem hübschen Herrschaftshaus ihre Räumlichkeiten. Das älteste Kurzfilmfestival der Welt. Sein 70-Jahre-Jubiläum hat sich der langjährige Leiter Lars Henrik Gass sicher versöhnlicher vorgestellt. Seit er nach dem 7. Oktober Solidarität für Israel eingefordert hat, torpedieren Filmschaffende die Veranstaltung. Gass, 58 Jahre, lässt sich nicht beirren. Der Festivalleiter, Typ sportlicher Intellektueller, äussert sich ruhig. Aber auch ganz klar.
Herr Gass, die Kurzfilmtage Oberhausen sollen ungefähr hundert Filme verloren haben. Stimmt das?
Ja. Aber man muss unterscheiden zwischen Filmen, die aus den Wettbewerben zurückgezogen wurden, und den institutionellen Absagen. Bei den Wettbewerben handelt es sich um nicht mehr als 10 Filme. Das ist zu verschmerzen. Aber von den institutionellen Absagen sind ganze Sektionen betroffen.
Ein Beispiel?
Wir haben über Jahre hinweg eine Sektion aufgebaut, die Verleihern aus dem Bereich des eher experimentellen Kurzfilms gewidmet ist. Von 14 Verleihern haben 11 abgesagt, teilweise mit direktem Verweis auf die Vorwürfe, teilweise ohne Begründung.
Den Absagen vorausgegangen war ein Facebook-Post von Ihnen am 20. Oktober, in dem Sie zur Solidarität mit Israel aufriefen. Können wir das kurz rekapitulieren?
Das Massaker am 7. Oktober hat mich sehr betroffen gemacht und beschäftigt. Es war dann in Berlin eine Solidaritätskundgebung mit den israelischen Opfern für den 22. Oktober angesetzt, unter der Schirmherrschaft des deutschen Bundespräsidenten. Der Hinweis wurde in den sozialen Netzwerken geteilt – auch von uns. Der Post lautete sinngemäss, dass wir zur Teilnahme an der Kundgebung aufrufen, dass wir das Massaker verurteilen, ebenso antisemitische Vorkommnisse in Berlin Neukölln. Denn mitinitiiert durch die inzwischen verbotene Vereinigung Samidoun wurden damals regelrechte Freudenfeiern in Neukölln abgehalten.
Sie sprachen von «Neuköllner Hamas-Freunden und Judenhassern». Haben Sie sich im Ton vergriffen?
Freudenfeste zu feiern, wenn 1200 Menschen zu Tode kommen, vergewaltigt und geschändet werden: Da finde ich es nicht eine Frage, ob man hier von «Hamas-Freunden und Judenhassern» reden kann. Das halte ich für ausgemachte Sache.
Trotzdem wurde Ihnen das Statement als Rassismus ausgelegt.
Der Begriff «Rassismus» ist über die Jahre, wenn man so will, semantisch entgrenzt worden. Rassistisch kann jetzt alles Mögliche sein. Sobald man beispielsweise einen muslimischen Antisemitismus auch nur berührt als Problem, heisst es gleich «Rassismus». Aber egal woher der Rassismus kommt, ob von rechts, von muslimischer oder sogar von linker Seite: Ich finde ihn gleichermassen abstossend.
Haben Sie einen Israel-Bezug?
Ich war noch nie in Israel. Bedingt auch durch den Umstand, dass ich viele arabische und islamische Staaten im Pass habe, Libanon etwa, aber auch Iran, fürchtete ich immer, dass die Einreise beschwerlich sein könnte. Wir teilen uns beim Festival auf: Eine Person reist nach Israel, die andere in arabische Länder. Ich habe gute Kontakte insbesondere nach Libanon und bin viel und gerne in den arabischen Ländern.
Der Aufruf zur Bekundung von Solidarität mit Israel war für Sie aber eine Selbstverständlichkeit?
Ja, das hielt und halte ich für selbstverständlich.
Sie dachten nicht, dass das Wellen schlägt?
Überhaupt nicht. Es war auch nicht unsere Absicht, zu geopolitischen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen. Wir wollten, dass der Antisemitismus, der auch in Deutschland unmittelbar sichtbar wurde, im Land selbst adressiert wird. Aber allein schon dadurch, dass wir Empathie gezeigt haben für die israelischen Opfer, stehen wir jetzt sozusagen auf der falschen Seite in der Israel-Frage. Und das sage ich mit grosser Bitterkeit, weil ich denke: Wo ist noch der humane Kern der Kultur?
Wann haben Sie gemerkt, dass sich etwas gegen das Festival zusammenbraut?
Ich bekam Ende Oktober von Freunden aus Berlin einen Hinweis, dass etwas im Umlauf sei. Aber es war nicht abzusehen, wie schnell das Zulauf erhalten würde. Wir haben dennoch bereits am 12. November eine zusätzliche Erklärung abgegeben zu unserem Facebook-Post. Aber unsere Erklärung hat nur zu noch mehr Angriffen geführt, auch zu einem zweiten Aufruf gegen uns. Zum Charakter dieser Aufrufe, von denen es ja mittlerweile unzählige gibt – vom israelischen Pavillon in Venedig bis zum Anliegen von «Strike Germany», gewisse deutsche Kulturinstitutionen zu bestreiken –, gehört, dass sie strukturell sehr gut organisiert sind.
Es sind orchestrierte Kampagnen?
Ja. In unserem Fall war es etwa sogar so, dass Gäste vergangener Festivals gezielt in den E-Mail-Verteiler aufgenommen wurden, um sie aufzufordern, sich dem Aufruf anzuschliessen. Das erklärt auch, warum viele Leute auf den Listen sind, die ich schon lange kenne, teilweise 25 Jahre, und die auch schon am Festival Filme gezeigt oder für uns Programme gemacht haben. Und sie haben sich nicht einmal bei uns erkundigt: Was ist da los? Können wir mal reden?
Niemand hat sich gemeldet?
Von diesen beiden Listen hat eine rund 1900 Unterschriften, die andere etwas über 600. Es gab vier oder fünf Leute, die die Anstrengung unternommen haben, sich mit mir auseinanderzusetzen. Das war allerdings nicht mit grossem Erfolg gesegnet. In einem Fall war es so, dass eine Filmemacherin, der wir zuletzt sogar eine Werkschau gewidmet hatten und die letztes Jahr meine eigene Tochter in New York für ein paar Tage untergebracht hatte, den Aufruf unterzeichnet hat. Sie glaubte, mir etwas erzählen zu müssen über gesellschaftliche Spaltungsprozesse, die sie allerdings mit ihrer Unterstützung einer solchen Kampagne ja selber betreibt. Ich fand das alles sehr schmerzlich und unverständlich.
Es hat Sie persönlich betroffen gemacht?
Leute, die mich und dieses Festival sehr genau kennen, machen da mit, obwohl sie ganz genau wissen, dass das, was in dieser Erklärung steht, diffamierend ist.
Was genau?
Beispielsweise, dass hier palästinensische Stimmen irgendwie zum Schweigen gebracht würden. Wir hatten noch im letzten Jahr ein Programm, das ausschliesslich palästinensischen Positionen gewidmet war. Es ist so vieles von vorne bis hinten falsch. Ich war immer auch für sogenannte postkoloniale Fragestellungen offen oder für das, was wir heute als Filmschaffen des globalen Südens bezeichnen.
Sahen Sie sich deshalb zu einer Reaktion gezwungen?
Es gab Leute, die aus gutem Grund sagten: auf keinen Fall reagieren. Man macht es nur schlimmer. Das widerspricht natürlich ein bisschen dem gesunden Menschenverstand, weil man immer davon ausgeht, dass man durch Aufklärung etwas erreichen kann: was genau gesagt wurde, worauf es sich bezog. Aber es geht allein darum, dass wir auf der falschen Seite stehen. Ein Teil des Problems ist, dass der Charakter einer solchen Kampagne – weil anonym gesteuert – Dialog geradezu ausschliesst. Sie ermöglicht also auch keinen Aushandlungsprozess. Eine solche Kampagne bewirtschaftet nur Ressentiments und eine Affektökonomie, die völlig unreguliert Wirkungen hat. Es braucht auch gar keinen Absender mehr.
Kann man es strafrechtlich verfolgen?
Diese Aufrufe benutzen Strukturen, die im Zusammenhang mit den Genua-Protesten gegen den G-8-Gipfel vor vielen Jahren entwickelt wurden. Sie sollten dafür sorgen, dass die Absender dieser Proteste nicht strafrechtlich belangt werden können. Damals hatte das einen nachvollziehbaren Grund. Hier haben wir nun eine Situation, in der Diffamierungen und Ressentiments in den gesellschaftlichen Raum getragen werden. Aber das ist nur die eine Ebene.
Was ist die andere?
Das, was wir immer als Zentrum dieses antiisraelischen Aktionismus verstanden haben – nämlich BDS –, ist völlig in den Hintergrund getreten. Denn mittlerweile ist dieser Israel-bezogene Antisemitismus so stark verankert im Kulturbereich, aber auch im geisteswissenschaftlichen Betrieb, er ist Common Sense geworden, ein kultureller Code. BDS als Marke braucht es nicht mehr. Im Gegenteil: BDS als Absender könnte man möglicherweise auch straf- und zivilrechtlich belangen; und das genau soll ja verhindert werden.
Der Israel-Hass hat sich verselbständigt?
Das Ganze kommt ein bisschen graswurzelartig daher. Ich will nicht grundsätzlich die Legitimität von aktionistischen Formen der politischen Auseinandersetzung infrage stellen. Was ich infrage stelle, ist die sehr regressive Form der Politisierung. Dass man nur noch schreit und nicht zuhört. Man reklamiert Widerspruchsfreiheit. Und ich finde auch das fast esoterische Verständnis von Politik problematisch, diese «rituelle Vergemeinschaftung», von der die Soziologin Alexandra Schauer spricht, die Widersprüche nur ausgrenzen, aber nicht aushalten kann. Das scheint mir für den politischen Diskurs überaus schädlich. Und ich halte es auch für den Ausdruck eines Verfallsprozesses in der Linken, weil die realen sozialen Fragen, die ja wirklich drängend sind, völlig in den Hintergrund treten.
Stand das Festival vor der Absage?
Das nicht, nein. Aber es stellen sich grundsätzliche Fragen, die sich schon bei der letzten Documenta aufgedrängt haben. Die grossen Kunstausstellungen und Filmfestivals gründen auf einem universalistischen Verständnis, das entstanden ist vor dem Hintergrund der Erfahrung von zwei Weltkriegen, von Faschismus, Nationalsozialismus. Man sagte sich: Wir wollen durch die Kultur dazu beitragen, dass sich das nie wiederholt. An dieser Grundannahme, glaube ich, ist etwas erschüttert.
Heute teilt die Kultur das Publikum in Lager – meinen Sie das?
Wir sehen uns gerade in eine Rolle gedrängt, die wir gar nicht wollten, aber geradezu annehmen müssen: Wir sind jetzt gewissermassen das «zionistische» Filmfestival. Ich merke umgekehrt, dass andere Filmfestivals sich dezidiert propalästinensisch positionieren. Es werden dort nur noch Gäste aus dem palästinensischen oder arabischen Kulturraum eingeladen oder solche, die klar propalästinensisch positioniert sind. Gar keine Leute mehr mit jüdischem Hintergrund. Die Retrospektiven, die Werkschauen, die Juryzusammensetzung: Alles folgt einer bestimmten Agenda. Hier finden zerstörerische Vereindeutigungen und Lagerbildungen statt. Auf diese Weise erfüllt man den Kulturauftrag im öffentlichen Interesse nicht mehr, und ich kann das, was hier gerade passiert, Leuten, die Kultur finanzieren, auch nicht mehr vermitteln, und warum das in ihrem Interesse sein soll. Das hat nichts mehr mit Widerstreit um die bessere Kunst, um das bessere Argument, um die interessantere Weltsicht zu tun, sondern nur noch mit Partikularinteressen und der Durchsetzung von Meinungshoheit.
Können Sie konkreter werden?
Ich weiss von anderen Festivals, wo in Sitzungen Diskussionen geführt werden: «Wenn dieser Film jetzt nicht ins Programm kommt, dann seid ihr alle Rassisten.» Eigentlich geht es nur noch darum, eigene Teilhabeansprüche durchzusetzen. Ein Filmfestival ist aber eine universalistische Behauptung: dass das, was da gezeigt wird, alle angehe. Die Fragen, die hier verhandelt werden, sollen nicht nur für die Hersteller dieser Filme Relevanz haben, sondern für möglichst viele andere auch. Es ist nicht unser Auftrag, gesellschaftliche Konflikte zu lösen, und wir können sie auch nicht lösen.
Das Klima ist derart vergiftet, der Israel-Hass weit verbreitet – wie geht es weiter?
Es ist eine Binsenweisheit, aber solange die Kriegshandlungen anhalten, werden wir aus der Sache nicht rauskommen. Und durch diese unglaublichen Positionierungen, die stattgefunden haben, ist im Vergleich zu den beiden Intifadas eine neue Situation entstanden. Ich kann ja jetzt überall nachlesen, wer sich wie positioniert hat, wer wen boykottiert hat. Es ist absurd, zu denken, dass man durch Regungslosigkeit, durch Stillhalten und Geduld zur Tagesordnung zurückkehren könne. Wir müssen einen neuen Gesellschaftsvertrag in der Kultur aushandeln, wie wir miteinander umgehen wollen, auch mit dem grassierenden Antisemitismus dort. Dass Antisemitismus hier zum kulturellen Code gehören soll, oder gegenseitige Boykotte gar, darf nicht sein. Notfalls muss das über die Kulturförderung reguliert werden. Das muss aufhören, sonst beschädigen wir die gesamte kulturelle Arbeit.