Harvey Weinstein: Hat der Filmproduzent Schauspieltipps erhalten? - Kommentar
Der gefallene Filmproduzent ist zurück. Zumindest in den Schlagzeilen. Was die Welt zuletzt von Harvey Weinstein zu sehen bekam, ist physisch eine merkwürdige Metamorphose: vom strahlenden Alphamann zum Opa mit Gehgestell.
Harvey Weinstein: Hat der Filmproduzent Schauspieltipps erhalten? – Kommentar
Auf symbolischer Ebene stand mit Harvey Weinstein nicht nur Harvey Weinstein vor Gericht. Es wurde auch einer besonders perfiden, von der eigenen Macht besoffenen Männlichkeit der Prozess gemacht. Das Urteil, 2020 im Namen des Volkes über den Vergewaltiger gesprochen, war auch ein Versprechen der Gesellschaft an sich selbst.
Seht her, so die Botschaft, auch der mächtigste Mann der Filmwelt steht nicht über dem Gesetz.
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In aller Öffentlichkeit illustrierte sein physischer Verfall, was von der toxischen Männlichkeit bleibt, wenn man sie ihrer Verbrechen überführt: nacktes Elend. Fahler Teint, tiefe Falten, wirres Haar. Gebrochen, gebrechlich. Weinstein als Wrack. Die Tiefe seines Sturzes, die Härte seiner Strafe schien dem Delinquenten dabei zusehends ins Gesicht geschrieben – und auf die Physis durchzuschlagen.
Mühsam schleppte Weinstein sich ins Gericht, humpelnd, gramgebeugt, gestützt von seinen Anwälten. Oder auf ein ordinäres Gehgestell, wie es in Deutschland die Krankenkasse finanzieren würde. Nach einer Operation am Rücken in Folge eines Autounfalls soll Weinstein auf eine solche Hilfe angewiesen sein. Ein Umstand, den viele Beobachter bezweifeln. Er hätte auch mit Krücken, am Rollator oder im Rollstuhl erscheinen können.
Seine Hinfälligkeit kommt ihm doch sehr entgegen
Eine erbärmlichere – oder erbarmungswürdigere – Fortbewegung aber als das schrittweise Gehumpel mit einem simplen Gehgestell, teils behelfsmäßig mit Tennisbällen abgedämpft, ist kaum denkbar. Wäre sein Fall fiktiv und würde verfilmt, das Requisit käme wohl nicht zum Einsatz. Es wäre ein zu deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl.
Da hat einer bekommen, was er verdient. Oder mehr. Vielleicht sogar ein bisschen zu viel?
Die Reaktionen der Öffentlichkeit – selbst jene seiner Opfer – reichen denn auch von Häme bis Mitleid. Die Schauspielerin Rose McGowan bemerkte kühl, der Mann habe wohl »gute Schauspieltipps bekommen«. Die Taktik spontaner Selbstverharmlosung ist nicht ohne Präzedenz. Als Michael Jackson wegen Kindesmissbrauch angeklagt war, trat er vor Gericht mit einem Hinken auf. Bill Cosby, ebenfalls der Vergewaltigung überführt, zog sich eine plötzliche Erblindung zu.
Tatsächlich dürfte Weinstein als Filmproduzent das eine oder andere über die Wirkung starker Bilder gelernt haben. Wenn sie nicht Mimikry oder »method acting« ist, kommt ihm seine Hinfälligkeit doch sehr entgegen. Sie bringt das körperliche Machtgefälle, das ihm einst seine Übergriffe erst erlaubte, performativ zum Verschwinden.
Seine Macht als Mogul und korrupter Türsteher in die Traumwelt von Hollywood hat Weinstein längst verloren. Sein Einfluss als Produzent spielte vor Gericht nur eine untergeordnete Rolle. Konkret ging es immer wieder um genau das, was er durch seinen gegenwärtigen Zustand permanent dementiert – seine physische Überlegenheit als Mann.
Ein Gespenst in den Ruinen einstiger Virilität
Immer wieder wurden Zeuginnen gefragt, warum sie sich seinen Zudringlichkeiten nicht entziehen konnten. Und stets wiesen sie auf seine schiere Größe hin, auf sein Gewicht von mehr als drei Zentnern. Die Anklage machte sich sogar die Mühe, die jeweils zierlichen Silhouetten seiner Opfer auf den damals noch tonnenförmigen Umriss des Täters zu projizieren – mit dem der aktuelle Weinstein auf der Anklagebank, ein Gespenst in den zerbröselten Ruinen seiner einstigen Virilität, kaum noch in Verbindung zu bringen war.
Mit seinen Taten hat er die weltweite #MeToo-Bewegung einst maßgeblich in Gang gesetzt. Wäre diese Bewegung eine ordinäre Treibjagd, hätte sie mit Weinstein nur einen besonders stolzen Achtender zur Strecke gebracht. Sofern es aber darum geht, sexualisierte Gewalt als gesellschaftliches Großproblem zu adressieren, war seine Verurteilung 2020 nicht mehr als ein Etappensieg – und ist die Aufhebung des Urteils nun ein Rückschlag.
Vielleicht sogar ein Zeichen dafür, dass das Pendel wieder in die andere, reaktionäre Richtung ausschlägt. Auf dem Spiel steht das zentrale Versprechen, dass auch der mächtigste Mann sich nicht über das Gesetz hinwegsetzen kann. Donald Trump lässt gerade gerichtlich prüfen, ob sich da nicht doch was machen lässt.