Grösstes Nato-Manöver seit Jahrzehnten: «Wenn sie uns angreifen, müssen wir bereit sein»
Ein F-35-Kampfjet startet vom britischen Flugzeugträger HMS «Queen Elizabeth» während der Nato-Übung «Steadfast Defender» im Mai 2021. Ana Brigida / AP
Es ist die grösste Militärübung der Nato seit 36 Jahren – und sie erinnert nicht zufällig an die Zeit des Kalten Krieges. Mit der Operation «Steadfast Defender 2024» (zu Deutsch: standhafter Verteidiger) probt die Allianz derzeit die Abwehr eines russischen Angriffs auf ihr Bündnisgebiet.
Bis Ende Mai trainieren dafür 90 000 Soldaten aus 32 Staaten vor allem die Alarmierung und die Verlegung von Landstreitkräften. Wie früher will der Nordatlantikpakt seine Abschreckungs- und Verteidigungsbereitschaft in Richtung Moskau demonstrieren. Denn wie einst gilt auch die Gefahr einer Konfrontation mit Russland wieder als real.
«Umfassender Krieg» mit Russland?
«Wenn sie uns angreifen, müssen wir bereit sein», sagte vergangene Woche der niederländische Admiral und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Rob Bauer bei der Ankündigung des Grossmanövers. Der Frieden sei keine Selbstverständlichkeit mehr, und so müsse man sich in den nächsten zwei Jahrzehnten auf einen «umfassenden Krieg mit Russland» einstellen. «Wir brauchen öffentliche und private Akteure, die ihre Denkweise von einer Ära, in der alles vorhersehbar und kontrollierbar war, zu einer Ära ändern, in der alles jederzeit passieren kann», so Bauer vor Journalisten in Brüssel.
Noch eindringlicher warnte am Sonntag der norwegische Befehlshaber Eirik Kristoffersen seine Landsleute vor der Gefahr eines Krieges. «Uns läuft die Zeit davon», sagte der General der Zeitung «Dagbladet». Es gebe ein «Zeitfenster von ein, zwei, vielleicht drei Jahren», in dem die Skandinavier massiv in die Verteidigung investieren müssten.
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sprach unterdessen von der Möglichkeit eines russischen Angriffs in fünf bis acht Jahren. Dringend «kriegstüchtig», mahnte der Sozialdemokrat, müsse deswegen die deutsche Bundeswehr werden. Der britische Befehlshaber Patrick Sanders forderte in einer Rede diese Woche sogar die Schaffung einer «Bürgerarmee», um im Notfall in kürzester Zeit handlungsfähig zu sein.
Die starken Botschaften bilden so etwas wie die Begleitmusik zur Operation «Steadfast Defender 2024». Fast geräuschlos hatte sich am Mittwoch von der amerikanischen Marinebasis in Norfolk, Virginia, aus die USS «Gunston Hall» auf den Weg nach Europa gemacht. Das Auslaufen des grauen Landungsschiffes, das konzipiert ist, um amphibische Fahrzeuge zu transportieren, markierte die erste Bewegung des viermonatigen Manövers.
Für die Amerikaner geht es darum, in einer ersten Phase zu testen, ob sie ihre Ausrüstung und ihre Soldaten rechtzeitig nach Europa verschiffen können. Gemeinsam mit kanadischen und britischen Seestreitkräften wird später vor der britischen Küste ein amphibischer Angriff durchgespielt. Erst in einer zweiten Phase sollen dann an Land die Truppenverlegungen geprobt werden. Szenario der Übung ist ein russischer Angriff auf alliiertes Territorium, der zum Bündnisfall führt – wobei Russland in den Erklärungen nicht namentlich erwähnt wird.
Beteiligt sind Einheiten aus allen 31 Nato-Staaten sowie aus dem künftigen Mitgliedsland Schweden. Die Soldaten trainieren in mehreren Einzeloperationen vor allem die schnelle Bewegung von Truppen an die Nato-Ostflanke, die von Norwegen und Finnland im hohen Norden über Polen bis nach Rumänien im Südosten verläuft. Insgesamt, heisst es in Brüssel, seien mindestens 50 Kriegsschiffe, 80 Kampfflugzeuge und mehr als 1100 Kampffahrzeuge im Einsatz. Es handle sich um eine «klare Demonstration unserer Einheit, Stärke und unserer Entschlossenheit zur gegenseitigen Verteidigung», sagte der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, Christopher Cavoli.
Bereits 2021 hatte es eine Operation «Steadfast Defender» gegeben, die wegen der Corona-Pandemie mit nur 9000 Soldaten viel kleiner als geplant ausfiel. Als historischer Vorgänger aber gilt die Manöverserie «Reforger» (Return Forces to Germany), mit der die Nato im Kalten Krieg regelmässig das Verlegen von Truppen bis an den Frontstaat Deutschland trainierte, um den Warschauer Pakt abzuschrecken. Bei der grössten Übung dieser Art waren im September 1988 über 124 000 Soldaten beteiligt. Fünf Jahre später wurden die «Reforger»-Manöver eingestellt.
Kernaufgabe vernachlässigt
Doch es zeigte sich, dass die Verbündeten nach der russischen Annexion der Krim 2014, spätestens aber nach dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 wieder mit einem rücksichtslosen Russland zu rechnen hatten. Sie erkannten, dass sie ihre Kernaufgabe, die Verteidigung des eigenen Territoriums, vernachlässigt hatten, und einigten sich darauf, zusätzliche Truppen zur Abschreckung an die Ostflanke zu verlegen.
Zu den betroffenen Staaten gehört Litauen, das sich wegen seiner Lage besonders von Russland bedroht fühlt. Hier befindet sich auch die sogenannte «Suwalki-Lücke», ein 70 Kilometer breiter Landstreifen zwischen Weissrussland und der russischen Enklave Kaliningrad. Schon lange treibt Nato-Strategen die Sorge um, dass Moskau dorthin vorstossen könnte, um die Baltenstaaten von den übrigen Nato-Ländern abzuschneiden – ein Szenario, das auch in der Operation «Steadfast Defender 2024» durchgespielt werden dürfte.