Große Fortschritte in der Onkologie - Überlebenschancen bei Krebs steigen enorm – auch dank Corona

Die Krebsmedizin wird in den kommenden Jahren einen Wandel erleben: Weg von Standard-Therapien hin zu ganz individuellen Medikamenten, maßgeschneidert für jeden einzelnen Patienten. Möglich macht das eine Technologie, die wir seit Corona alle kennen.

Jedes Jahr erkrankt fast eine halbe Million Menschen in Deutschland an Krebs. Noch immer versterben mehr als 220.000 Patienten jährlich daran. Doch die Sterblichkeit geht seit Jahrzehnten zurück. Für immer weniger Menschen ist eine Krebsdiagnose gleichzeitig auch ein Todesurteil. Zu verdanken ist das großen Fortschritten in der Medizin, die unter anderem durch die Pandemie vorangetrieben wurden.

FOCUS online hat darüber mit Dirk Jäger gesprochen, dem Direktor der Abteilung für Medizinische Onkologie im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg. Er erklärt, wieso in Zukunft jeder Krebspatient ein eigens für ihn hergestelltes und dadurch besonders wirksames Medikament bekommen könnte, und was das mit Corona zu tun hat.

Krebs in Deutschland, RKI

Krebs mit maßgeschneiderter Behandlung bekämpfen

Erst mal zum Vergleich: „In der Vergangenheit hat man viele Patienten in eine Studie eingeschlossen. Wurde dann festgestellt, dass Therapie A besser funktioniert als Therapie B, sind alle Patienten mit Therapie A behandelt worden“, erklärt Jäger. Heute wisse man, dass „keine zwei Patienten molekular komplett vergleichbar sind“. Eine Therapie müsse daher viel individueller sein – abgestimmt auf die besonderen Anforderungen des einzelnen Patienten und seines Tumors.

Einmal hergestellt, kann ein solches Medikament dann in Form einer Impfung verabreicht werden. Hier profitiert die Krebsmedizin von einem Verfahren, das im Kampf gegen Corona perfektioniert wurde: der mRNA-Technologie. Es kommt im Rahmen von Studien bereits an Krebspatienten zum Einsatz.

MRNA-Impfung gegen Krebs

Die folgende Grafik zeigt den Ablauf einer Krebsbehandlung mit einem mRNA-Impfstoff:

(1) Der Impfstoff dringt in die Zelle ein.

(2) Er enthält den Bauplan für einen nicht-infektiösen Erreger. Dieser wird zu einer sogenannten Antigen-präsentierenden Zelle, kurz APZ, transportiert. Das sind Zellen, die dafür sorgen, dass unser Immunsystem im Krankheitsfall anspringt und einen Erreger bekämpft. Das funktioniert bei den meisten Erkrankungen automatisch, nicht aber bei Krebs.

(3-4) Mithilfe des Impfstoffs werden nun sogenannte Immunogene gebildet.

(5-7) Diese sind wiederum in der Lage, eine Reaktion des Immunsystems auszulösen.

Was sich bereits während der Pandemie zeigte: mRNA-Impfstoffe sind schneller und leichter herzustellen als herkömmliche Vakzine, die abgeschwächte Erreger enthalten. Auch in der Krebsmedizin eignet sich das Verfahren daher besonders gut. Im Rahmen einer aktuellen Studie an Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte Biontech die Krebsimpfstoffe produziert, einer der Hersteller der Corona-Impfung.

Nach Impfung und anschließender Operation zeigten sich deutlich bessere Krankheitsverläufe, berichtet Jäger. Und das, obwohl Bauchspeicheldrüsenkrebs unter allen Krebsarten eine der geringsten Überlebensraten hat.

Verbesserte Überlebenschancen

Besonders positiv seien die Fortschritte in der Krebsmedizin bei der Behandlung von schwarzem Hautkrebs, selbst wenn sich bereits Metastasen gebildet, also die Tumorzellen im Körper gestreut hatten. „Mittlerweile hat wahrscheinlich die Hälfte der Patienten trotz Metastasierung Langzeitüberlebenschancen. Das war vor zehn Jahren noch komplett anders, da hatten diese Patienten eine Prognose von unter einem Jahr.“

„Es gibt Tumorentitäten, da sehen wir nach wie vor sehr zögerlich Fortschritte“, lenkt Jäger ein. Etwa bei der Behandlung von Hirntumoren. „Aber auch in diesem Bereich haben wir jetzt erste frühe, ganz spannende Ergebnisse durch die Zelltherapie.“

Zum Ablauf einer Zelltherapie: „Man entnimmt dem Patienten Lymphozyten, also weiße Blutkörperchen, und manipuliert sie außerhalb des Körpers, indem man eine genetische Information in die Zelle einführt.“ Wieder zurück im Körper führe diese genetische Manipulation dazu, dass das weiße Blutkörperchen Krebszellen erkennen und angreifen kann.

„Lebendige Therapie“ könnte Krebs langfristig bekämpfen

Eine Behandlung, die ausschließlich auf einen einzigen Patienten abgestimmt ist – hocheffektiv, aber aufwändig und teuer? Nicht unbedingt, sagt Dirk Jäger. Entfalle dadurch eine Langzeittherapie, könne das individuelle Verfahren am Ende zeitsparender und damit günstiger sein als bislang übliche Behandlungsmethoden.

Die Spritze versetzt das Immunsystem im besten Fall dauerhaft in die Lage, die Krebszellen zu bekämpfen. „Wir verabreichen eine lebendige Therapie, die im Patienten weiterlebt und sich auch weiter teilt“, so Jäger.

Bis der Einsatz eines hoch individualisierten Medikaments im Klinikalltag ankommt, werden allerdings noch Jahre vergehen. Weitere Studien an Patienten sind erforderlich. Sie müssen unter anderem klären, welche Krebsarten sich auf diese Weise besonders gut bekämpfen lassen. Und in welchem Krankheitsstadium die Behandlung am besten funktioniert. So könnte die Spritze das Immunsystem bei Patienten, deren Tumor operativ entfernt wurde und die nur noch vereinzelte Krebszellen im Körper haben, deutlich besser gegen die Tumorreste in Stellung bringen als bei Patienten mit vielen Metastasen.

Wie werden Krebsmedikamente in Zukunft hergestellt?

Außerdem stehen strategische und wirtschaftliche Überlegungen an: „Wir können ein solches Medikament dann nicht mehr einfach in der Apotheke bestellen, sondern müssen es für jeden Patienten einzeln herstellen“, sagt Jäger. Hierbei sei noch unklar, wie Kliniken in Zukunft mit pharmazeutischen Produktionsstätten oder akademischen Zentren zusammenarbeiten, um solche Substanzen zu entwickeln.

Dennoch ist sich Jäger sicher: Mediziner werden im Laufe der nächsten fünf Jahre immer mehr Krebspatienten mit einer individuellen Therapie behandeln, eventuell auch in Kombination mit anderen Therapien. „Dafür werden wir mehr molekulare, immunologische Daten von jedem einzelnen Patienten in Erfahrung bringen müssen. Das heißt, wir müssen tiefere Diagnostik betreiben. Aber das wird unsere Therapien präziser und effektiver machen.“