Gericht statt Großkanzlei: Warum eine Topabsolventin in die Justiz gegangen ist
Klare Haltung: Amélie Hamm ist überzeugt, dass sie sich für den richtigen Beruf entschieden hat.
Der Anruf des Ministeriums kam am Tag nach der mündlichen Prüfung. Dann ging alles schnell, was in der Justiz nicht selbstverständlich ist. Eine Woche später hatte Amélie Hamm ein Bewerbungsgespräch, bekam direkt danach die Zusage, zufälligerweise tagte der Richterwahlausschuss bald darauf. Im Juni 2021 trat sie ihre erste Stelle als Richterin auf Probe am Landgericht Frankfurt an.
Jetzt sitzt sie in ihrem Büro im Frankfurter Justizzentrum nahe der Konstablerwache. Das E-Gebäude hat in etwa so viel Charme wie eine bessere U-Bahn-Station, im Winter kann es eisig sein, im Sommer brütend heiß. Wer in Ruhe ein Gespräch führen will, muss das Fenster schließen, um das Sirenengeheul von draußen auszusperren. Vor Hamm auf dem Schreibtisch, der wie alle Möbel hier den deprimierenden Ton „Birke“ hat, stehen zwei Bildschirme mit Kamera, daneben eine Stehlampe, an den Wänden ein paar niedrige Regale. Auf dem Regal hinter ihr stapeln sich die Akten, sortiert nach dem, was zu bearbeiten und was erledigt ist.
Aber Amélie Hamm, 33 Jahre alt, wirkt glücklich. Sie ist da, wo sie hinwollte. Angekommen, jedenfalls fürs Erste.
Bewerber sind der Justiz davongelaufen
Blick auf das E-Gebäude: Im Sommer heiß, im Winter kalt, oft laut und immer ungemütlich – hier ist das Arbeitsumfeld wenig attraktiv.
Bei ihr hat die Justiz etwas richtig gemacht. Sie braucht Leute wie Hamm: zwei Prädikatsexamen, smart, motiviert, leistungsbereit, organisiert. Leute wie sie landen viel zu oft außerhalb von Gerichten und Staatsanwaltschaften, obwohl der Staat den Anspruch hat, die Besten in seinen Reihen zu versammeln. Doch er war zu überzeugt von der eigenen Attraktivität und hat den realistischen Blick auf sich selbst verloren. Die Bewerber sind der Justiz davongelaufen, haben sich andere Jobs gesucht, in denen sie modernere Büros und ein weniger steifes Arbeitsumfeld haben und wo mehr auf dem Gehaltszettel steht, mancherorts direkt beim Einstieg eine sechsstellige Summe. Die Besten zu gewinnen ist schwieriger geworden. Immerhin ist man in Wiesbaden und anderswo mittlerweile aufgewacht. Die Besoldung in Hessen ist angepasst worden: 2021 gab es für einen Einsteiger noch 4400 Euro brutto, seit 2024 sind es 5100. In anderen Ländern hat sich weniger getan, die Unterschiede sind enorm.
Aktenstapel im Büro: Amélie Hamm ist nicht nur in einer Großen Wirtschaftsstrafkammer, sondern hat auch eine Zivilkammer.
Ein Richter am Landgericht Tübingen hat die Situation in einer Zuschrift an die „Deutsche Richterzeitung“ im vergangenen Sommer so zusammengefasst: „Fehlende Wertschätzung, Nachwuchsprobleme, letztlich eine beginnende Erosion des Rechtsstaats“. Warum also geht man heute noch in die Justiz?
Auch bei Amélie Hamm waren Großkanzleien im Studium „das große Ding“. Vielleicht sei das in einer Stadt wie Frankfurt noch mehr so als anderswo, sagt sie. Nachdem sie im ersten Examen eine zweistellige Punktzahl erreicht hatte, begannen die Kanzleien, sie zu umwerben. Hamm, die ursprünglich einen Studienplatz für Psychologie gehabt, aber immer mit Jura geliebäugelt hatte, merkte im ersten Semester, „das ist zu 200 Prozent mein Ding“. Später im Studium beschäftigte sie sich vor allem mit Wirtschaftsrecht, arbeitete nebenher bei KPMG und veröffentlichte viel. Noch vor dem Referendariat erwarb sie den Abschluss LL.M. in Wirtschaftsrecht, arbeitete gleichzeitig als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Großkanzleien und begann eine Promotion. Damals dachte sie noch, sie sei auf dem Weg, Anwältin zu werden.
Dann kam das Referendariat. Hamm hatte sich entschlossen, damit anzufangen und die Promotion erst einmal ruhen zu lassen. Anders als in Kanzleien bringen Titel in der Justiz keinen Vorteil. „Ich hatte viel ausprobiert, wollte einfach mal anfangen zu arbeiten und fertig werden.“
Schon in der ersten Station am Landgericht Frankfurt, bei einer Bankenkammer und einer Kammer für Handelssachen merkte sie: Das könnte etwas für sie sein. Die Richterin war herzlich, engagiert, taff, machte ihren Job mit Leidenschaft und schaute selbstkritisch auf das, was sie tat. In anderen Stationen traf Hamm in den Arbeitsgemeinschaften auf Leiter, die sie gut fand. Sie fühlte sich wohl, hatte das Gefühl, die Türen stünden immer offen. „Es hat menschlich einfach gepasst.“
Als Familienrichterin ans Amtsgericht
Jetzt ist sie also Richterin. Ein Jahr lang befasste sie sich vor allem mit Personenversicherungsrecht in einer Zivilkammer am Landgericht, dann suchte das Amtsgericht Königstein jemanden für Familienrecht. Amélie Hamm ging für elf Monate hin. Proberichter sollten möglichst unterschiedliche Erfahrungen sammeln, sagt sie. Überhaupt reizte sie das an der ordentlichen Gerichtsbarkeit: die Bandbreite der Inhalte, auch innerhalb des Strafrechts und des Zivilrechts. „Das spiegelt sich schon in der Ausbildung wider. Im Grunde werden wir alle zu Richtern ausgebildet.“
Königstein war ihre Chance, ein weiteres Rechtsgebiet und ein kleines Amtsgericht kennenzulernen. Die Herausforderungen im Familienrecht sind vollkommen andere: Hamm hatte mit Inobhutnahmen und Streits um Unterhalt und Zugewinn zu tun, mit Unterbringungen, Misshandlungen und psychisch erkrankten Kindern. Sie verstand, welche Folgen Personalmangel in Jugendämtern hat und was fehlende Therapieplätze für Jugendliche bedeuten. Man müsse als Familienrichterin viel reden, Probleme aufbereiten, Mediatorin sein, sagt Hamm.
Sie wollte nie die Anspruchshaltung haben, nur das eine oder das andere zu machen. Es gehöre zum Beruf, breit aufgestellt zu sein, findet sie. Durch die Erfahrung kann sie jetzt immerhin sagen, dass ein kleines Amtsgericht auf Dauer nichts für sie wäre. Ihr Wunsch nach der Station im Familienrecht, Strafrecht zu machen, wurde erfüllt.
Seit einem knappen Jahr ist sie zurück am Frankfurter Landgericht und den größten Teil ihrer Arbeitszeit Beisitzerin in einer Großen Wirtschaftsstrafkammer. Dort hat sie direkt am ersten öffentlichkeitswirksamen Verfahren mitgewirkt: dem Cum-ex-Prozess gegen den ehemaligen Freshfields-Steueranwalt Ulf Johannemann und einen mitangeklagten ehemaligen Maple-Banker.
Bevor sie sich entschied, in den Staatsdienst einzutreten und Richterin zu werden, hatte Hamm eines realisiert: dass sie nicht auf einer Seite stehen will. „Es hat einen Reiz, am Ende die Person zu sein, die entscheiden muss“, sagt sie. Sie schätzt das juristische Arbeiten, die Beweisfindung, die Ergebnisfindung. Vom ersten Tag als Richterin an trug sie Verantwortung, vor allem als Einzelrichterin im Zivilrecht: Termine ansetzen, die Sitzung leiten, ein Urteil schreiben, für all das gibt es keine Schonfrist. „Das ist schon was Besonderes.“ In der Kanzlei sitze man in riesigen Teams, schreibe vielleicht einen kleinen Teil der Klageschrift, der Partner schaue auf jeden Fall noch einmal drauf.
Für eine wachsame Justiz
Als Richterin größtenteils allein abliefern zu müssen, kann auch überfordernd sein. Man muss strukturiert sein, effizient, sich organisieren. Hamm sagt, es brauche viel Selbstmotivation. Die richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut. „Man hat keinen Chef, der sagt, bis Ende der Woche will ich das auf dem Tisch haben.“
Man kann stundenlang mit ihr darüber reden, warum eine starke Justiz wichtig ist und was das überhaupt bedeutet. Was passieren würde, wenn der Rechtsstaat abrutschen würde, ausgehöhlt würde, weil Bürger und auch die Justiz nicht wachsam sind angesichts antidemokratischer und gegen die freiheitliche Grundordnung agierender Kräfte. Welche Ansprüche junge Menschen überhaupt haben sollten, wenn sie sich für das Richteramt entscheiden. Hat dieser ewige Vergleich mit den Großkanzleien wirklich einen Sinn? Sind täglich frische Obstkörbe, Espressomaschinen, Mitgliedschaften in den besten Fitnessstudios der Stadt und ein sechsstelliges Einstiegsgehalt wirklich der springende Punkt? Oder geht es in Wahrheit um etwas ganz anderes, darum, sich zu engagieren, einzustehen für die Gesellschaft, für Gerechtigkeit, auch wenn die Bedingungen nicht königlich sind?
Kein elitärer Kreis
Amélie Hamm jedenfalls hat das Gefühl, sich für eine sinnerfüllte Tätigkeit entschieden zu haben. Ja, es gehe auch um Gerechtigkeit, sagt sie. Der Rechtsstaat sei schließlich eine wesentliche Säule der Demokratie, und die Frage, was diese Gemeinschaft eigentlich braucht, um friedlich, freiheitlich und stabil existieren zu können, hat sie schon zu Beginn des Jurastudiums umgetrieben. Am Gericht kommt sie der Antwort nun näher, als es geschehen wäre, wenn sie tatsächlich anderswo angefangen hätte.
In ihrem Arbeitsalltag begegnet sie nicht nur einem elitären Kreis, sie bewegt sich nicht in der Blase der obersten fünf Prozent und verliert die „normale“ Gesellschaft nicht aus dem Blick. Ob am Familiengericht, im Strafrecht oder im Versicherungsrecht: „Mehr Nähe zum Bürger kann man nicht haben“, sagt Hamm. „Es ist alles sehr viel menschlicher, als man sich das vorstellt.“ In ihren ersten Jahren als Richterin ist sie jedem Alter, jeder Gesellschaftsschicht, jeder Herkunft begegnet. „Das hat man in der Kanzlei nicht, da ist man unter sich.“
Nicht jeder denkt wie sie. Nicht jeder kommt mit dem Justizalltag klar, der manchmal arg nach Behörde und Vorschrift riecht und oft wenig glamourös ist. Nicht jeder kann sich mit der Besoldung abfinden, die sich gemessen an der Leistung, die erwartet wird, und an den Umständen, unter denen gearbeitet wird, wie ein Witz anfühlen kann. Vor allem wenn man sich Anwälten aus besagten Kanzleien gegenüber wiederfindet. Auch Amélie Hamm wird in ein paar Jahrzehnten zurückblicken und Bilanz ziehen. Was sie dann wohl sagt?
Vielleicht, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen hat. Dass sie etwas getan hat, das gut war. Es schauen eben nicht alle gleich auf die Welt. Es gibt junge Leute wie sie, die sich auf der einen Seite von ihrem Idealismus leiten lassen und auf der anderen Seite erkennen, dass die Justiz viele gute Seiten hat. Für die Gesellschaft ist das ein Glück. Jetzt muss die Justiz nur dafür sorgen, dass Amélie Hamm ihre Entscheidung nicht bereut – und dass sie nicht irgendwann doch in eine Kanzlei geht.