Gazastreifen: Israel rückt weiter an die Grenze von Rafah vor
Nach einem israelischen Luftangriff östlich von Rafah im Gazastreifen steigt Rauch auf.
Die israelische Armee ist in der Nacht zu Dienstag in Richtung der südlichen Stadt Rafah im Gazastreifen vorgerückt und hat damit Sorgen vor einer folgenschweren Militäroffensive verstärkt. Soldaten hätten den Grenzübergang Kerem Schalom beschossen und auch die palästinensische Seite des nur wenige Kilometer entfernten Grenzübergangs Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten ins Visier genommen, wie palästinensische Medien sowie der US-Sender CNN und das Nachrichtenportal Axios berichteten.
Israels Verteidigungsminister Joav Galant sprach von einer mehrstufigen Invasion, die gestoppt werden könne, wenn die Hamas sich zu einer vernünftigen Verhandlungslösung zum Austausch der Geiseln bereiterkläre. Die US-Regierung teilte später mit, sie gehe nicht davon aus, dass die lange angekündigte Großoffensive des israelischen Militärs auf Rafah bereits begonnen habe.
Die Hamas hatte am Montagabend ihre Zustimmung zu einem Verhandlungsvorschlag über eine Waffenruhe erklärt. Nach israelischen Angaben entspricht dieser Vorschlag allerdings nicht den israelischen Forderungen. Am Dienstag soll es in der ägyptischen Hauptstadt Kairo ein weiteres Treffen von Unterhändlern geben, um eine Waffenruhe, die Freilassung von Geiseln und Häftlingen sowie die ungehinderte Lieferung humanitärer Hilfsgüter in den Gazastreifen zu ermöglichen, wie das Golfemirat Katar in der Nacht mitteilte. Katar, Ägypten und die USA agieren als Vermittler zwischen der Hamas und Israel, die aus Prinzip keine direkten Verhandlungen miteinander führen.
Wenige Stunden nach der Ankündigung der Hamas, einer Waffenruhe zuzustimmen, griff die israelische Armee am späten Montagabend Ziele im Osten von Rafah an. Nach Angaben eines Armeesprechers handelte es sich um Einrichtungen der Hamas. Das israelische Kriegskabinett hatte zuvor entschieden, den Militäreinsatz in Rafah fortzusetzen, um den militärischen Druck auf die Hamas zu erhöhen und die eigenen Kriegsziele durchzusetzen.
Der Grenzübergang Kerem Schalom – der wichtigste für die Lieferung von Hilfsgütern aus Israel in den Gazastreifen – sei aus einer Entfernung von 200 Metern von Panzern und auch von Artillerie beschossen worden, hieß es in palästinensischen Medienberichten. Mehrere Häuser seien zerstört worden, auch von Todesopfern war die Rede, wobei es zunächst keine unabhängige Bestätigung dafür gab.
Das Nachrichtenportal Axios berichtete unter Berufung auf israelische Regierungsbeamte, der Einsatz von Panzern und Bodeneinheiten östlich von Rafah sei als erste Phase der Offensive zu verstehen. Die Übernahme des Grenzübergangs Rafah solle nicht nur den Machtverlust der Hamas im Gazastreifen demonstrieren. Anschließend sollten Palästinenser ohne Verbindung zu den Islamisten an der Verteilung von Hilfsgütern beteiligt werden, die aus Ägypten in das abgeschottete Küstengebiet kommen.
Der CNN berichtete, die von der Hamas akzeptierte Fassung enthalte drei jeweils 42-tägige Phasen. Die erste sehe unter anderem die Freilassung von 33 Geiseln im Austausch für hunderte palästinensische Häftlinge, einen schrittweisen Teilabzug israelischer Truppen aus dem Gazastreifen und Bewegungsfreiheit für unbewaffnete Palästinenser in dem Küstengebiet vor. Die zweite Phase sei nicht detailliert ausgearbeitet, laufe aber auf die Freilassung aller restlichen Geiseln, den Komplettabzug der israelischen Armee aus Gaza und eine dauerhafte Kampfpause hinaus. In der dritten Phase soll demnach ein auf drei bis fünf Jahre angelegter Prozess zum Wiederaufbau Gazas beginnen.
Die Ankündigung der Hamas, sie habe ihre Zustimmung signalisiert, löste im Gazastreifen Jubelszenen auf den Straßen aus. In Rafah, Gaza-Stadt und anderen Orten strömten Menschen auf die Straßen, um zu feiern. Die Reaktion der israelischen Seite und die folgenden Ereignisse nährten jedoch Zweifel, ob wirklich ein Durchbruch erzielt wurde.
Allerdings scheinen nicht alle es mit der Waffenruhe so ernst zu meinen: Militante Palästinenser haben nach eigenen Angaben Raketenangriffe auf israelische Ziele verübt. Der bewaffnete Arm des Islamischen Dschihad teilte am Montagabend mit, die Stadt Sderot, der Kibbuz Nir Am und israelische Siedlungen nahe des Gazastreifens seien ins Visier genommen worden. Die Angriffe seien eine Reaktion auf israelische Luftangriffe auf den Gazastreifen. Die israelische Armee erklärte, dass in der Nähe des Gazastreifens Sirenen zu hören waren. Berichte über Verletzte oder Tote gab es zunächst nicht.
Aus dem Büro des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu hieß es, der Vorschlag der Hamas sei weit entfernt von dem, was Israel verlange. Das Kriegskabinett habe denn auch zugestimmt, an der geplanten Offensive in Rafah festzuhalten. Bei dem Vermittler-Vorschlag handele es sich nicht mehr um den gleichen, auf den sich Israel und Ägypten vor zehn Tagen geeinigt hätten und der die Grundlage indirekter Verhandlungen gewesen sei, hieß es von israelischer Seite. Es seien „alle möglichen Klauseln“ eingefügt worden, berichtete der Fernsehsender Channel 12.
Der israelische Polizeiminister Itamar Ben-Gvir bezeichnete die Zustimmung der Hamas als taktischen Kniff. „Es gibt nur eine Antwort auf die Tricks und Spiele der Hamas: einen sofortigen Befehl, Rafah zu erobern, den militärischen Druck zu erhöhen und Hamas weiter bis zur vollständigen Niederlage zu bedrängen“, zitierten israelische Medien den Rechtsaußen-Politiker.
In einer Stellungnahme der Angehörigen der von der Hamas verschleppten Geiseln hieß es am Montagabend, die Ankündigung der Islamisten müsse den Weg für die Rückkehr der Verschleppten ebnen. Vertreter der Angehörigen begrüßten die Ankündigung der Regierung Netanjahus, eine Verhandlungsdelegation zu Gesprächen mit den Vermittlern zu entsenden. In mehreren Städten Israels kam es am Montagabend zu Demonstrationen für eine Verhandlungslösung zur Freilassung der Geiseln.