Familiennewsletter: Was meine Tochter mit Downsyndrom mir über Sprache beibringt
Das Erste, was ich durch unsere Tochter mit Downsyndrom lernte: Um einander zu verstehen, braucht es keine Worte. Trotzdem freue ich mich über jedes neue Wort aus ihrem Mund. Auch wenn es »Luftpüps« heißt.
Familiennewsletter: Was meine Tochter mit Downsyndrom mir über Sprache beibringt
Der Trost der Welt kann in zwei Worten stecken. Bei uns war es der Satz: »Sie gedeiht.« Was für ein Wort, »gedeihen«, so altertümlich, als hätte es sich verirrt in den Jahrhunderten und in den Räumen, denn die, die es in den Mund nahmen, waren Ärzte, Intensivmediziner in Krankenhausstationen voller piepsender Geräte.
Doch es war das treffende Wort, ein Wort, das beschrieb, was unsere Tochter, geboren mit 745 Gramm und gleich vier verschiedenen Diagnosen, tat, Tag für Tag: atmen, zunehmen, leben.
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Neun Jahre ist dieser Satz jetzt her, und dieses prächtig gediehene Kind, von dem niemand wusste, ob und wie viel es jemals würde sprechen können, hat mich, die Journalistin, vieles über Sprache gelehrt. Das Erste war: Es geht auch ohne Worte, das Verstehen und das Ausdrücken. Kommunikation ist so viel mehr als nur Sprache. Wer fühlt und mitfühlt, begreift, was der andere fühlt.
Da unsere Tochter mit Downsyndrom langsamer ist als andere Kinder beim »Spracherwerb«, bleibt auch mir mehr Zeit, über die verschiedenen Funktionen von Sprache nachzudenken. Sprache strukturiert, und Struktur bringt Sicherheit, das ist das eine. Unsere Tochter strukturiert sich ihren Tag durch endloses Aufzählen und Abfragen von »erst« und »dann«. Sie erfindet aber auch Wörter und zeigt, wie wir uns die Welt verständlich machen, indem wir etwas benennen. Ein paar Begriffe haben wir aus Spaß übernommen: den Ausruf »Hutt!« zum Beispiel, wenn man sich erschrocken hat, »Tür zu!«, wenn es darum geht, den Reißverschluss der Jacke zu schließen. Und das Wort »Luftpüps«, das ich vermutlich nicht erklären muss.
Ab und zu, wenn auch mein Mann sich immer neue Fantasiewörter ausdenkt, erinnere ich ihn daran, dass wir Eltern das größte »Sprachvorbild« für unsere Tochter seien. So sagte es mal eine Freundin, als ich darüber klagte, dass die Wartezeit für einen Logopädieplatz bei ungefähr einem Jahr liege. Nun ist unsere Tochter (auch ohne Logopädie) mittlerweile bei der sprachlichen Stufe angekommen, dass sie anderen von ihrem Erleben erzählen kann. Praktisch heißt das: Ich komme mit ihr schweißgebadet nach Navi-Versagen und Parkplatzsuche bei der Nachmittagsförderung fürs Lesenlernen an (dazu später mehr), und das Erste, das unsere Tochter einer anderen Mutter mitteilt, ist: »Mama ›Scheiße‹ gesagt!« Ist doch toll, oder? Was das Kind für Fortschritte macht!
Meine Lesetipps
Auch das ist übrigens eine wunderschöne Eigenart von Sprache: Wer möchte, kann eine zweite Ebene hören oder lesen. Klar, das macht das Kommunizieren kompliziert, anstrengend, aber auch interessant. Wir haben der Kommunikation in all ihren Facetten eine ganze Ausgabe von SPIEGEL WISSEN gewidmet.
Ein paar Texte wie den über das richtige Zuhören oder das richtige Streiten haben wir Ihnen vergangene Woche schon vorgestellt. Hier ein paar neue Lesetipps:
Meine Kollegin Jule Lutteroth hat sich ein Thema vorgenommen, das viel tiefgründiger ist, als man im ersten Moment annehmen könnte. Es geht um den Small Talk, dieser »Kleinkunstform der Kommunikation«, die den Umgang mit anderen Menschen erleichtert. Und die vielen doch so schwerfällt.
Meine Kollegin Heike Le Ker hat eine Neuropsychologin porträtiert, Mutter von fünf Kindern, die Interessantes über die Stärken und die Bedürfnisse von introvertierten Menschen zu erzählen hat. Und ich habe eine Hausgemeinschaft besucht, in der sich Menschen über 70 zusammengetan haben, um unter einem Dach alt zu werden, mit gemeinsamem Putzplan und gemeinsamer Weihnachtsfeier – und vielen Diskussionen.
Wie kleine Geschichten etwas über das Leben erzählen, über den Menschen, seine Gewohnheiten und seine Beziehungen, das zeigt mein Lieblingstext diese Woche. Er trägt den vielversprechenden Titel: »Männer, Frauen, Supermärkte« und besteht aus lauter kurzen Beiträgen, die wir im Ressort zusammengetragen haben. Nach der Lektüre schrieb ich einer Kollegin spontan einen Satz, den ich so auch noch nie formuliert habe: »Bist du mit meinem Mann verheiratet?«
Das jüngste Gericht
Wenn Sie noch einen praktischen Tipp für den Einkaufskorb brauchen, empfehle ich Ihnen diese Kombination von grünem Spargel und hartem Ei. Ich genieße die Spargelzeit immer sehr, denn auch hier gilt, wie bei so vielem im Leben: Der Reiz liegt in der Endlichkeit. Darüber habe ich übrigens in meiner aktuellen Camping-Kolumne aus der Reihe »Das Monster und ich« geschrieben. Zwar ging es nicht um Spargel (den wir im Wohnmobil-Monster auch schon gekocht haben), dafür um das Spannungsverhältnis von Alltag und Besonderheit und der Frage: Würde ich für immer reisen wollen? Übrigens, wenn Sie Lust haben: Aus der Familiencamping-Reihe ist mittlerweile ein SPIEGEL-Buch geworden mit dem Titel »Monstertouren«.
Mein Moment
Zum Essen komme ich leider an den Tagen der Nachmittagsförderung nie, weil ich vom Schreibtisch direkt ins Auto stürze. Immerhin habe ich dort Zeit zum Nachdenken, und während ich überlegte, was ich Ihnen diese Woche erzählen könnte, brauste ein Auto an uns vorbei, und ein junger Mann schrie mir durch das geöffnete Fenster etwas entgegen. Während ich noch versuchte, mir auf die Wortfetzen einen Reim zu machen, und erst langsam begriff, dass der junge Mann mir vorgeschlagen hatte, doch lieber Fahrrad zu fahren, rief unsere Tochter von der Rückbank: »Los, schneller, Mama!«
Dass unsere Tochter intuitiv – und schneller als ihre Mutter ohne Beeinträchtigung – erfasst hatte, was gemeint war, fand ich wiederum ziemlich komisch. Und das ist etwas, was ich an Sprache so liebe: Sie kann dich in Sekunden zum Weinen oder zum Lachen bringen.
Mich würde daher interessieren. Welche Sätze Ihres Kindes werden Sie nie vergessen? Welcher Satz, den andere über Ihr Kind sagten, hat Sie zutiefst berührt? Welche Wortschöpfungen Ihrer Kinder mögen Sie besonders? Schreiben Sie mir gern an [email protected]!
Als ich in meinem letzten Newsletter über das Loben mit seinen Freuden und Tücken nachdachte, schrieb mir ein Leser, dass er gerade dann »ein tröstendes, teilnehmendes Lob« ausspreche, wenn etwas nicht gut gelaufen sei.
»Es gilt dann die Anstrengung zu würdigen und auch zu sagen, wie dieses Missgeschick das nächste Mal vermieden werden kann und gleichzeitig, dass mir schon etwas Ähnliches passiert ist. Damit zwinge ich mich selbst dazu, von Plattitüden wegzukommen und die jeweilige Situation genauer zu betrachten und individuell darauf einzugehen. Das spürt der Mensch, den ich lobe, sehr wohl!«
In diesem Sinne, herzlich,
Ihre Sandra Schulz