Fall Dillinger: „Der Pfarrer steht über dem Gesetz“
Im Bild: Blick in eines der Arbeitszimmer des Priester Dillinger.
Wie konnte es sein, dass ein katholischer Priester über Jahrzehnte hinweg Hunderte Fotos von halb nackten Jugendlichen machte, etliche davon in eindeutig sexuellen Posen? Und das lange weitgehend unbehelligt von kirchlicher und staatlicher Strafverfolgung? Derartige Fragen gehören seit Jahren zum Alltag, wenn es darum geht, sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche aufzuarbeiten. Aber kaum je wurden sie so gründlich untersucht, wie im Abschlussbericht zum Fall Edmund Dillinger, der am Dienstag in Trier vorgestellt wurde. Dillinger war im November 2022 im Alter von 87 Jahren verstorben. In seinem Nachlass fand Dillingers Neffe eine umfangreiche Sammlung von Fotos, die den Verdacht sexuellen Missbrauchs nahelegten.
Dillingers Neffe zeigt Bilder des Priesters mit vermutlichen Opfern.
Der rund hundertseitige vorläufige Abschlussbericht, den der ehemalige Generalstaatsanwalt Jürgen Brauer und der ehemalige stellvertretende Leiter der Staatsanwaltschaft Trier, Ingo Hromada, im Auftrag der Unabhängigen Aufarbeitungskommission des Bistums nun vorlegten, zeigt: Die eine Antwort gibt es nicht. Im Fall Dillinger kam mehreres zusammen: das Versagen der Bistumsleitungen, das Schweigen der Gemeindemitglieder, die Angst der Betroffenen, das Wegschauen der Justiz.
Mädchen unter die T-Shirts gefasst
Das zeigen schon die ersten Stationen seiner Laufbahn. Seine erste Stelle trat Dillinger, der in dem Gutachten als „stockkonservativ“ und „reaktionär“ beschrieben wird, Anfang der Sechziger in Saarbrücken in der Pfarrgemeinde St. Johann an. Sein Nachfolger bekam später von den Messdienern Hinweise auf sexuelle Übergriffe Dillingers. Er habe sich dafür geschämt, sei dem aber nicht nachgegangen, berichtete er den Gutachtern. Zwei Jahre später wurde Dillinger in die Pfarrei Maria Himmelfahrt nach Saarlouis-Roden versetzt. Laut den Personalakten des Bistums warfen ihm Jugendliche vor, sie an die nackten Oberschenkel gefasst zu haben.
Außerdem musste er sich gegenüber dem Bistum Trier zum Vorwurf äußern, mit einem 14 Jahre alten Italiener im Schlafzimmer des Pfarrhauses gewesen zu sein, ein anderer Geistlicher hatte den Jungen aus dem Haus kommen sehen. Dillinger behauptete, der Italiener sei 23 Jahre alt gewesen und er habe mit dem Gast italienische Konversation geübt. Der zuständige Mitarbeiter im Generalvikariat des Bistums Trier teilte seinen Vorgesetzten mit, die Jungen seien wenig glaubwürdig und der Italiener habe nicht befragt werden können, weil er in seine Heimat gereist sei. Aus Sicht der Gutachter gab es indes keinen Anlass, an den Schilderungen zu zweifeln.
In Bitburg, seinem nächsten Einsatzort, soll er drei Mädchen im Alter von 14 und 15 Jahren unter ihre T-Shirts gefasst haben und erst nach Gegenwehr von ihnen abgelassen haben. Ihre Eltern hätten die Kinder damals nicht darüber informiert, „da man gewusst habe, dass ,Pfarrer über dem Gesetz stünden‘ und als Unberührbare gegolten hätten“, geben die Gutachter die Aussage eines „Hinweisgebers“ wieder. Insgesamt hat Dillinger in der Zeit von 1961 bis 2018 laut dem Gutachten 19 Personen in verschiedenen Schweregraden sexuell missbraucht und eine „nicht annähernd zu beziffernde Zahl“ in sexualisierten Posen fotografiert.
Zu einem kirchlichen Verfahren gegen Dillinger kam es aber erst im Jahr 2012, als der 76 Jahre alte Priester einen Pfadfinderstamm gründen wollte und ein Pastoralreferent gegenüber dem Bistum Trier seine Bedenken äußerte. Daraufhin stieß das Bistum in den Personalakten auf Vorwürfe gegen Dillinger und meldete den Fall dem Vatikan. Das Bistum verbot ihm schließlich die öffentliche Feier von Gottesdiensten und den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Es schaltete zudem die Staatsanwaltschaft ein, die ihre Ermittlungen jedoch nach kurzer Zeit wieder einstellte. Dem amtierenden Trierer Bischof Stephan Ackermann halten die Gutachter kein Fehlverhalten im Umgang mit dem Fall vor.
Schwere Vorwürfe erheben die beiden Juristen jedoch gegenüber der Staatsanwaltschaft Saarbrücken, die anordnete, einen großen Teil des Nachlasses zu vernichten. Dadurch sei die Aufarbeitung erheblich behindert worden. Auch staatlichen Stellen jenseits der Justiz stellen die Gutachter kein gutes Zeugnis aus. Insbesondere sie hätten zum Teil erst nach mehrfachen Erinnerungen oder gar nicht reagiert. Letzteres gelte für das Auswärtige Amt. An dieses hatten sich die Gutachter gewandt, weil der Fall auch eine internationale Komponente hat: Dillinger hatte afrikanischen Studenten Stipendien vermittelt und reiste oft nach Afrika. Auch die Unabhängige Aufarbeitungskommission des Bistums Trier äußerte deutliche Kritik an den Akteuren aus Staat und Politik. Im Fall Dillinger dränge sich beginnend bei der Schulaufsicht über die Strafverfolgungsbehörden bis hin zum Auswärtigen Amt „der Eindruck des immer bewussten Ignorierens auf“.