Evakuierungsaufruf für Rafah: Warum Israel die Offensive vorantreibt – und was das für den Geiseldeal heißt
Israels Militäroperation in Rafah wird immer konkreter. Jetzt sollen Zehntausende die Stadt im Gazastreifen verlassen. Steht die Offensive gegen die letzte Bastion der Hamas bevor?
Auf der Flucht. Palästinensische Familien versuchen, sich in Sicherheit zu bringen.
Es könnte der Vorbote der lange angekündigten Offensive sein. Am Montagmorgen hat das israelische Militär zur Evakuierung der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen aufgerufen.
Durch Anrufe, SMS und Flyer wurden zunächst 100.000 Menschen aufgefordert, den östlichen Teil der Stadt zu verlassen und sich Richtung Küste oder in die Gegend um den Ort Chan Junis zu bewegen. Es stünden Feldlazarette, Zelte und größere Mengen an Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten bereit. In Rafah und Umgebung haben 1,5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser Zuflucht gefunden.
Eine mögliche Offensive in Rafah ist heftig umstritten. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte diese in den vergangenen Monaten immer wieder angekündigt, um gegen die letzte Bastion der Hamas im Gazastreifen vorzugehen.
Israels Verbündete, allen voran die USA, hatten den jüdischen Staat aber mehrfach deutlich davor gewarnt, eine umfassende Militäroperation zu starten. Zum einen wird eine sehr hohe Zahl ziviler Opfer befürchtet, zum anderen könnte sich die ohnehin dramatische humanitäre Krise nochmals verschärfen.
Das vorrangige Ziel ist die Zerschlagung der Hamas. In Rafah sollen sich noch einige Bataillone der Terrororganisation aufhalten. Außerdem wolle Israel eine „neue Realität an der Grenze zu Ägypten zu schaffen, die den Schmuggel zugunsten der Hamas künftig verhindert“, sagt Nimrod Goren, Präsident und Gründer von Mitvim, dem israelischen Institut für regionale Außenpolitik, dem Tagesspiegel. „Israel hat mit einer solchen Operation gewartet, um Zeit für Gespräche über eine Kampfpause und die Freilassung von Geiseln zu gewinnen.“
Dass Netanjahu trotz der scharfen Warnungen der internationalen Partner die Offensive vorantreibt, sieht Goren vor allem als Botschaft an seine Koalition.
Israel hat mit einer solchen Operation gewartet, um Zeit für Gespräche über eine Kampfpause und die Freilassung von Geiseln zu gewinnen.
Nimrod Goren, israelischer Experte für Außenpolitik
„Für Netanjahu ist eine Rafah-Operation auch zu einem innenpolitischen Thema geworden, mit dem er versucht, seine politische Basis und seine rechtsextremen Koalitionspartner anzusprechen“, glaubt Goren, der auch Senior Fellow für israelische Angelegenheiten am Middle East Institute in Washington ist.
Über den tatsächlichen Start der Offensive kann nur spekuliert werden. Klar ist: Das israelische Militär hat angekündigt, zunächst die Zivilbevölkerung zu evakuieren. Darüber, wie lange diese Phase dauert, gab es bereits Anfang April Unstimmigkeiten zwischen Israel und den USA.
Während das Militär des jüdischen Staates davon ausging, dass es etwa vier Wochen für die Evakuierung brauche, empfanden Vertreter von US-Präsident Joe Biden dieses Zeitfenster einem Bericht des US-Mediums „Axios“ zufolge als viel zu kurz. Sie veranschlagte eher vier Monate.
Vor allem die USA, der Westen und arabische Staaten möchten die Offensive in Rafah unbedingt verhindern.
Stephan Stetter, Professor für Internationale Politik
Dass Israel überhaupt bereit ist, zunächst Zivilisten in Sicherheit zu bringen, führt Stephan Stetter von der Universität der Bundeswehr vor allem auf enormen diplomatischen Druck zurück.
„Vor allem die USA, der Westen und arabische Staaten möchten die Offensive in Rafah unbedingt verhindern“, sagt der Professor für Internationale Politik. Dass Israels Armee nun einen schrittweise ablaufenden Militäreinsatz plane, sei ein Ergebnis dieses Drucks. „Das sagt jedoch noch nichts darüber aus, wie die Offensive am Ende tatsächlich verläuft.“
Die Israelis wollen wohl nicht vier Monate mit einem Start der Offensive warten – und doch wird auch hier taktiert. „Die Evakuierung hat in begrenztem Umfang begonnen, was – relativ schnell – einige begrenzte Militärschläge ermöglichen wird, mit denen Israel versucht, mehr Druck auf die Hamas auszuüben, damit sie einem Abkommen über die Freilassung von Geiseln zustimmt, das nicht zu einem Ende des Krieges verpflichtet“, sagt Nimrod Goren.
Das sieht auch Simon Wolfgang Fuchs so. Dies bedeute jedoch nicht unbedingt den tatsächlichen Beginn einer groß angelegten Bodenoffensive, sagt der Professor für Nahoststudien an der Hebräischen Universität Jerusalem. Noch werde ja verhandelt. Allerdings ist Fuchs skeptisch, ob es zu einer Einigung kommt.
Die Führung der Hamas befürchtet, dass es – sobald alle verbliebenen Geiseln freigelassen sind – trotzdem zur Invasion von Rafah kommt.
Simon Wolfgang Fuchs, Nahost-Experte
„Die Hamas will eine unbegrenzte Feuerpause. Netanjahu ist offenbar aber nur bereit, eine temporäre Waffenruhe zu akzeptieren.“ Eine zunächst befristete Einstellung der Kampfhandlungen könnte man zwar immer wieder verlängern. „Die Führung der Hamas befürchtet allerdings, dass es – sobald alle verbliebenen Geiseln freigelassen sind – trotzdem zur Invasion von Rafah kommt.“ Denn Netanjahu habe einen vollständigen Sieg über die Islamisten versprochen. „Dieses Versprechen kann er schwerlich brechen.“
Am Wochenende sah es zunächst gut aus. Vertreter der Hamas reisten in die ägyptische Hauptstadt Kairo, um unter Vermittlung Ägyptens, Katars und der USA ein Abkommen über die Freilassung der Verschleppten und eine Feuerpause mit Israel auszuhandeln. Saudische Medien berichteten am Samstag, dass die Hamas wohl bereit sei, einen Deal zu akzeptieren.
Es kam anders. Die Gespräche wurden abgebrochen, wieder einmal warfen sich beide Seiten unverhältnismäßige Forderungen vor. Israel wollte sich nicht zur Beendigung des Krieges verpflichten, eine Forderung, auf welcher die Hamas besteht.
Wie es nun weitergeht, ist offen. Stephan Stetter von der Universität der Bundeswehr München geht davon aus, dass die Gespräche zwischen der Hamas und der Regierung in Israel „kurz vor dem Kollaps stehen“. Den Islamisten im Gazastreifen falle es leicht, sich für einen Deal auszusprechen, wenn Netanjahu weiterhin eine dauerhafte Waffenruhe als Bedingung für eine Rückkehr der Verschleppten ablehne.
Dies tue der Premier weniger aus ideologischen Gründen als vielmehr aufgrund koalitionspolitischer Zwänge: Sein Kabinett könnte auseinanderfliegen. „Die Machtverhältnisse haben sich in den vergangenen Monaten verschoben – vom Kriegskabinett, das immer weniger Einfluss hat, hin zu den rechtsnationalistischen Ministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir“, sagt Konfliktforscher Stetter. Diese Kräfte, auf die sich Netanjahu stützen müsse, lehnten eine Vereinbarung mit der Hamas kategorisch ab.
Die internationalen Helferinnen und Helfer sprechen sich schon lange kategorisch gegen einen israelischen Einsatz in Rafah aus. Auch die jetzt beginnende Evakuierung ändert nichts an dieser Haltung. Im Gegenteil.
„Die Lage im Gazastreifen ist noch immer katastrophal, insbesondere in Rafah, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung Zuflucht gesucht hat“, sagt Martin Frick, Leiter des Deutschland-Büros des UN-Welternährungsprogramms (WFP).
In einem Gebiet, das nur 20 Prozent der Fläche des Küstengebiets ausmache, lebten derzeit über eine Million Menschen, die bereits mehrfach vertrieben worden seien und keine sicheren Rückzugsorte mehr hätten.
Eine Militäroffensive würde nach Einschätzung von Beobachtern nicht nur weitere Tote in der Zivilbevölkerung bedeuten, sondern auch jegliche humanitäre Hilfe im Süden zum Erliegen bringen.
„Rafah ist der wichtigste Knotenpunkt, um Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bringen und von dort zu verteilen“, betont auch Frick. Kampfhandlungen dort hätten enorme Auswirkungen auf die Arbeit aller humanitären Organisationen und „würden die Fortschritte beim Zugang für Hilfslieferungen, die wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, zunichtemachen“.