Eltern als Nachhilfelehrer – ist das notwendige Schadensbegrenzung?
Das nächste Referat steht an, und die Eltern sitzen beim Lernen neben dem Kind und helfen. Dabei wäre es wohl besser, sich rauszuhalten. Oder nicht?
Soll man Kinder beim Lernen unterstützen oder sie zu mehr Eigenverantwortung erziehen?
Pro
Das ist Schadensbegrenzung
Eltern nehmen die Pest des Auf-die-Physikprüfung-Lernens nur deshalb auf sich, weil sie überzeugt davon sind, dass es leider, leider notwendig ist.
Die Erzählung von den Helikoptereltern, die ihr Schulkind rund um die Uhr beaufsichtigen oder erbarmungslos zur Höchstleistung anpeitschen, ist ein unausrottbares Klischee. Kann sein, es gibt sie, man selbst kennt solche Leute nicht. Man selbst kennt bloss das Gefühl, mit einem Achtklässler auf die nächste Physikprüfung zu lernen, der nicht nur den Stoff nicht kann, sondern nicht mal das Thema kennt. Mit einem solchen Kind zu lernen, ist die galoppierende Pest.
Kein vernünftiger Mensch tut sich das aus dem Ehrgeiz an, eine Sechser-Matura in die Wege zu leiten. Kein Mensch tut es, weil er dem Kind nichts zutraut oder Probleme damit hat, Verantwortung abzugeben. Eltern nehmen die Pest des Auf-die-Physikprüfung-Lernens nur deshalb auf sich, weil sie überzeugt davon sind, dass es leider, leider notwendig ist.
Klarstellung: Natürlich ist das nicht Sinn der Sache. Natürlich sollen Kinder in der Schule auch das Lernen lernen und es besser früher als später draufhaben – ohne dass die Eltern danebensitzen und flötend Wissenshäppchen verfüttern. Allen Müttern und Vätern an dieser Stelle neidzerfressene Glückwünsche, deren Kind die Kunst des eigenständigen Lernens ab Klasse zwei beherrschte.
Hätte man selbst ein solches Kind, man würde die Nachhilfe-Mami, zu der man zwischenzeitlich geworden ist, todsicher verachten. Das unter anderem ist ja das wahnsinnig Interessante daran, Kinder zu haben: Gute Vorsätze und pädagogische Dogmen pulverisieren schneller, als du «Ab ins Bett!» sagen kannst.
Daher misstraut man Studien zum Thema Lernen, in denen individuelle Kinder zu einer Kindermasse eingeschmolzen und mit einer Prozentzahl versehen werden. Ebenso misstraut man Erziehungsratgebern, die eine «Methode» empfehlen, sowie Büchern von Autorinnen und Autoren, deren Kind es wahrhaftig bis zur Hochschulreife gebracht hat und die nun zu wissen glauben, wie ein solches Wunder auch für anderer Leute Kinder möglich wird. In diesem ganzen Leben als Mutter hat einen noch niemals eine Studie, ein Ratgeber oder ein Meine-Lebensweisheit-als-Mutter-Buch irgendwie weitergebracht.
Geholfen (im Sinne von: die Nerven beruhigt) haben die wenigen Ansätze, bei denen Kinder als Individuen betrachtet werden, was zwangsläufig bedeutet, dass es für unterschiedliche Kinder mit Schulproblem nicht die eine Lösung gibt. Geholfen haben Gespräche mit Freunden, die Ähnliches schon hinter sich hatten. Man könne als Familie nur versuchen, so sagten sie, diese Zeit irgendwie zu überstehen, bis es dann von selber läuft. In der vierten oder in der neunten Klasse, je nachdem.
Gut möglich, dass der Knoten in dem Moment platzt, wo Eltern die Lernassistenz einstellen. Ebenso gut möglich, dass das Kind leise Danke sagt und sich endgültig nur noch mit dem Handy beschäftigt. Die Noten rauschen noch tiefer in den Keller, Lehrer versichern gebetsmühlenartig, das Kind sei intelligent, aber leider sehr unaufmerksam.
Dann steht die Physikprüfung an. Das Kind weiss nichts, ist verzweifelt, will nicht sitzen bleiben. Und nun möchte man die Autoren von «Elternbeteiligung im schulischen Kontext» erleben, jener Studie, die vor drei Jahren ergeben hat, dass Hilfe beim Lernen eher schadet, als nutzt. Man möchte von ihnen gerne wissen: Hätten Sie hier die Nerven, Nein zu sagen?
Übrigens muss nicht immer das Kind schuld sein, wenn vom Unterrichtsstoff nicht viel hängen bleibt. Manchmal waren es auch die Lehrpersonen, die sich zu wenig angestrengt haben. Was in solchen Fällen zu Hause stattfindet, ist Schadensbegrenzung. Und Eltern sind sehr wohl in der Lage einzuschätzen, ob sie dem 14-jährigen Opfer eines hoffnungslosen Physiklehrers inhaltlich weiterhelfen oder einen faulen Null-Bock-Teenager hätscheln. Niemand kennt Kinder besser als ihre Eltern. Könnte es womöglich sein, dass sie – so oder so – genau das Richtige tun?
Kontra
Eltern sind keine Dauernachhilfelehrer
Sich rauszuhalten ist kein Zeichen von Desinteresse, sondern signalisiert dem Kind: Ich traue dir zu, dass du das allein schaffst.
Gute Nachrichten für alle Eltern, die mit ihren Kindern lieber Karten spielen als Kurven diskutieren und sich auch nicht um die Hausaufgaben kümmern: Wissenschaftlerinnen und Pädagogen geben ihnen recht. Es ist wichtig, dass Schülerinnen und Schüler irgendwann selbst entscheiden, was und wie viel sie lernen.
Ab wann, ist von Kind zu Kind verschieden. Auf der weiterführenden Schule, spätestens zu Beginn der Pubertät, sollten sich Eltern aber nicht mehr einmischen. Schön, wenn sie sich dafür interessieren, womit sich die Tochter oder der Sohn im Unterricht so beschäftigt. Sie zu kontrollieren oder zum Arbeiten zu zwingen, wie es immer mehr besorgte Mittelschichtseltern tun, sollte man aber nicht. Das kann dem Lernerfolg sogar schaden, zeigen Studien.
Sich rauszuhalten ist kein Zeichen von Desinteresse, sondern signalisiert dem Kind: Ich traue dir zu, dass du das allein schaffst. Natürlich muss man ansprechbar sein, wenn es mal etwas erklärt haben will oder vor einer Prüfung abgefragt werden möchte, wenn es Material für ein Referat oder eine bessere Vokabel-App braucht. Man sollte sich aber nicht zum Dauernachhilfelehrer machen, schon gar nicht zum Antreiber.
Es geht in der Schule schliesslich nicht nur darum, sich Wissen draufzuschaffen. Mindestens genauso wichtig ist es, dass Kinder und erst recht Jugendliche lernen, wie man eigenständig arbeitet und dass man Verantwortung für das eigene Tun und Nichttun übernehmen muss: Wie teilt man sich die Zeit ein? Wo findet man Hilfe, wenn man etwas nicht versteht? Wie geht man damit um, wenn man von der Lehrerin eins auf den Deckel kriegt, weil gerade alles andere wichtiger ist als Hausaufgaben?
Leicht zu lernen ist das nicht, schon gar nicht in einem Schulsystem, das in weiten Teilen auf Druck und Selektion setzt. Üben muss man es trotzdem, am besten so früh wie möglich. Wer als Mutter oder Vater regelmässig mit seinem Kind für die weiterführende Schule lernt, läuft Gefahr, seiner Entwicklung im Weg zu stehen. Wie soll man selbstständig werden, wenn man dauernd erinnert, abgefragt und kontrolliert wird? Und wann – oder helfen Mama und Papa auch im Studium oder in der Ausbildung noch?
Es stresst nicht nur, wenn Eltern sich dauernd einmischen, es killt auch das Wundermittel der Lernpsychologie: die Motivation, den inneren Antrieb. Der entsteht vor allem dann, wenn man sich selbstbestimmt dafür entschieden hat, etwas zu tun. Doch manche Kinder bekommen dazu gar nicht die Gelegenheit, weil stets ein besorgter Elternteil hinter ihnen steht, um sie anzuschieben.
Klingt in der Theorie gut, aber was macht man jetzt mit dem 14-Jährigen, dessen Probezeit auf dem Gymnasium auf dem Spiel steht und der gar keinen Bock mehr hat? Auch in diesem Fall kommt man mit Druck nicht weiter, im Gegenteil. In der Pubertät wird Schule schnell zum innerfamiliären Kampfplatz, auf dem auch andere Konflikte ausgetragen werden. Man streitet über schlechte Noten, doch eigentlich geht es um etwas anderes, etwa um den Wunsch nach Autonomie oder um enttäuschte Erwartungen.
Das schadet dem Familienfrieden genauso wie der Motivation, etwas für die Schule zu tun. Ist das Klima erst mal vergiftet, kommt man da so schnell nicht mehr raus. Hier hilft es nur, das Kind ernst zu nehmen, ihm seine Verantwortung deutlich zu machen und gemeinsam über Lösungen nachzudenken. Und als Mutter oder Vater die harte Lektion zu lernen: Ich kann meinem Kind die Anstrengungen des Lebens nicht abnehmen.
Das ist schwer, kein Wunder. Ist der Nachwuchs nicht erfolgreich, besteht die Probezeit auf dem Gymnasium nicht, fällt das auch auf die Eltern zurück. Daran ist das Schulsystem schuld. In kaum einem anderen Land wird so sehr von Vätern und vor allem Müttern erwartet, dass sie abends erklären, was tagsüber nicht verstanden wurde. Das endlich zu ändern, ist Aufgabe der Politik. Aufgabe der Eltern ist es, ihre Kinder zur Eigenständigkeit zu erziehen und sie dann in Ruhe machen zu lassen.
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