Ehrverletzungen, Unwahrheiten, Beleidigungen: Wie die Kasseler Stavo mit der AfD umgeht
„Dann ist eine klare Intervention angebracht“
Ehrverletzungen, Unwahrheiten, Beleidigungen: Wie die Kasseler Stavo mit der AfD umgeht
Aus der Perspektive der Zuschauer: Blick auf die Stadtverordnetenversammlung im Kasseler Rathaus.
Wie umgehen mit der AfD? Kassels Stadtverordnetenvorsteherin Martina van den Hövel-Hanemann spricht im Interview auch über die turbulente Sitzung im Februar.
Kassel – Nach den Osterferien tagt die Stadtverordnetenversammlung heute erstmals wieder. In diesem Jahr ist es mitunter schon turbulent zugegangen – vor allem in der Februar-Sitzung. Im Interview spricht Stadtverordnetenvorsteherin Martina van den Hövel-Hanemann über die Herausforderung ihres Amtes und den Umgang mit der AfD.
Frau van den Hövel-Hanemann, war die Herausforderung noch nie so groß wie in diesen Zeiten, eine Sitzung der Stadtverordneten zu leiten?
Meine Zeit als Stadtverordnetenvorsteherin ging vor drei Jahren bereits mit Herausforderungen los: Wir mussten aufgrund der Pandemie mehrere Ortswechsel vornehmen, zum Beispiel in die Stadthalle, dort Abstände einhalten. Wir sind dann wieder in den Stadtverordnetensaal und den Normalbetrieb zurückgekehrt. Außerdem haben wir die Digitalisierung der Stadtverordnetenversammlung realisiert, um als Verwaltung einen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Also eigentlich war immer etwas los. Bezüglich der Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung gilt: Manche Debatten verlaufen lockerer, manche werden erregter geführt. Es ist schon herausfordernd, aber nicht so, dass sich diese innerhalb der drei Jahre verstärkt hätten.
Die Sitzung im Februar war zumindest sehr turbulent. Sie haben dem AfD-Stadtverordneten Sven Dreyer das Wort entzogen, später ist die SPD während eines Wortbeitrages von Herrn Dreyer aus dem Saal gegangen, der Ältestenrat wurde einberufen. Wie haben Sie die Situation empfunden?
Als anstrengend. Das war eine Stadtverordnetenversammlung, die von 16 bis 23.15 Uhr dauerte, also deutlich länger als gewöhnlich. Da braucht man schon einiges an Konzentration, um tatsächlich den Stadtverordneten, die gerade sprechen, auch gerecht zu werden. Ich leite die Sitzungen nicht allein, ich habe immer zwei Kollegen oder Kolleginnen vom Präsidium an meiner Seite, und in der Regel beraten wir uns und stimmen uns gemeinsam ab. In dieser Stadtverordnetenversammlung gab es in meiner Wahrnehmung mehrere Grenzüberschreitungen vonseiten der AfD, die so nicht unkommentiert gelassen werden konnten, weil sie die Würde des Hauses verletzt haben und weil eine sachbezogene Debatte durch die Häufung von Provokationen schwieriger wurde.
Rüge folgt auf Rüge: Stufenverfahren gegen diffamierende Sprache
Dreyer forderte, die Zuwendungen für das Kulturzentrum Schlachthof zu streichen, weil sich dieses nicht von Linksradikalen und Linksextremisten distanziere. Er sprach dann auch von „illegaler Masseneinschleppung“ und einem „aktivistendominierten Klimaschutzrat“.
Genau. Die Geschäftsordnung sieht ein Stufenverfahren vor, wenn die Würde des Hauses verletzt wird. In der konkreten Situation war dies durch eine deutlich diffamierende Sprache während der Haushaltsdebatte, die auch Personen verletzt hat, der Fall. Laut dieses Stufenverfahrens gehe ich folgendermaßen vor: Ich rüge, ich rüge noch mal, und bevor das Wort entzogen wird, muss ich ankündigen, dass bei der nächsten Provokation das Wort entzogen wird. Das hatte ich beim zweiten Mal vergessen, also habe ich das beim dritten Mal gemacht.
Es endete im Entzug des Wortes.
So etwas mache ich nicht gern, und es kommt selten vor. Der Entzug des Wortes ist ein Instrument, dessen Einsatz man sich gut überlegen sollte. Ich fand es in diesem Fall aufgrund der Vielzahl an Diffamierungen und Diskriminierungen, die von dem Abgeordneten der AfD zu hören waren, erforderlich. Wortentzug bedeutet allerdings, dass dem Betroffenen das Wort nur für den entsprechenden Tagesordnungspunkt entzogen wird. Es ging also zunächst relativ gesittet weiter.
Später, als Dreyer zu einem anderen Thema sprach, verließ die SPD-Fraktion den Saal. Im Anschluss daran riefen Sie den Ältestenrat zusammen. Was hat es mit diesem Instrument auf sich?
Als die SPD den Raum verließ, gab es eine Gemengelage von Zwischenrufen, von Stadtverordneten, die den Raum verließen, von Buhrufen. Da habe ich gedacht, eine ordnungsgemäße Sitzung kann jetzt nicht mehr garantiert werden. Genau das ist aber meine Aufgabe. Den Ältestenrat habe ich einberufen, nachdem es einen entsprechenden Antrag aus den Reihen der Stadtverordnetenfraktionen gegeben hatte. Auch die Einberufung des Ältestenrates sollte ein Mittel sein, das nicht so oft bemüht wird. Der Ältestenrat besteht aus Mitgliedern aller Fraktionen und dem Oberbürgermeister. Er unterstützt im Alltagsgeschäft, entscheidet unter anderem über Widersprüche, zum Beispiel aufgrund vermeintlicher Fehler bei Abstimmungen. Im konkreten Fall hat er über den weiteren Sitzungsverlauf beraten.
Sie haben von Provokationen gesprochen. Nun ist die Grenze zu einer reinen Meinungsäußerung fließend. Gibt es Leitlinien, an denen Sie sich orientieren?
Meine Leitlinie ist der demokratische Diskurs, der sich am Grundgesetz und den dort ausgeführten Grundrechten orientieren muss. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen in der Stadtverordnetenversammlung, wie eine Debatte lebendig geführt werden sollte, ob es Zwischenrufe geben soll oder keine. Wenn Sie oben sitzen, dann blicken Sie auf fast 70 Stadtverordnete, von denen sich die einen frühzeitigere Interventionen wünschen, während die anderen es länger laufen lassen wollen. Da darf man sich nicht irritieren lassen.
Fest steht: Die Grenzen sind nicht immer klar zu ziehen. Aber wenn es zu wiederholten Diskriminierungen kommt, zu Ehrverletzungen, zu Unwahrheiten, zu persönlichen Beleidigungen oder zu Unterstellungen, dann wird die Würde von Menschen und somit des Hauses verletzt. Dann ist eine klare Intervention angebracht. Dass solche Interventionen häufig bei der AfD geschehen, ist sicher kein Zufall. Aber die Regeln gelten für alle.
Vorsitz der Stadtverordneten in Kassel muss neutral agieren
Nun sagt die AfD ganz gern, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Was halten Sie dem entgegen?
Dass das nicht stimmt. Dass ich mich klar an die Hessische Gemeindeordnung und die Geschäftsordnung halte und alle gleichbehandele. Ich unterbreche auch Stadtverordnete anderer Fraktionen, wenn es erforderlich ist. Aber noch mal: Ich habe keine Liste zum Abhaken, die Grenzen sind oft fließend. Das hat sicher auch mit dem Verlauf der Stadtverordnetenversammlung zu tun. Ich nehme die Stimmung im Stadtverordnetensaal wahr und achte darauf, dass diese nicht zu sehr hochkocht. Festzuhalten bleibt aber auch: Der Rückgriff auf die Geschäftsordnung ersetzt keine Politik. Politisch zu agieren, steht mir in meiner Rolle als Stadtverordnetenvorsteherin nicht zu, sie verlangt von mir eine neutrale Haltung.
Legt es die AfD nicht genau darauf an, dass es zum Eklat kommt?
Ausschließen kann ich das nicht. Der Umgang damit geht nicht nur mich, sondern vor allem auch die Fraktionen und Medien etwas an. Meiner Meinung nach erwarten die meisten Bürgerinnen und Bürger eine klare Position gegenüber der AfD. In meiner Rolle als Stadtverordnetenvorsteherin bin ich jedoch verpflichtet, neutral zu agieren. Ich greife nur dann ein, wenn ich feststellen muss, dass die Würde von Menschen und/oder des Parlamentes verletzt wurde oder aus anderen Gründen der ordnungsgemäße Ablauf der Sitzungen gestört wird.
Zum Abschluss: Bekommt man als Stadtverordnetenvorsteherin im Laufe der Zeit eine gewisse Routine, was das Leiten einer Sitzung anbelangt?
Ich würde es nicht als Routine bezeichnen, sondern es eine größere Sicherheit nennen, weil besser abzuschätzen ist, wo die Fallstricke sind. Sicher ist: Man muss wachsam sein, auch mit längerer Erfahrung.
(Florian Hagemann)