E.T. in Einsiedeln
Der Jamaikaner ;Lee «Scratch» Perry war Künstler und mit seiner schrillen Kleidung, dem auffälligen Schmuck selbst Kunstfigur. Paul Bergen / Redferns / Getty
Zwei Kühe beobachten den Paradiesvogel, der sie filmt, mit ihnen spricht, zum Kuhgebimmel singt. Es ist der Reggae-Sänger und Musikproduzent Lee «Scratch» Perry. Immer wieder dokumentierte er seine Umgebung und sich selbst, so auch hier: rot gefärbter Bart, bunter Hut mit kleinen aufgeklebten Spiegeln, schrilles Federnkleid unter einer rot-gelb-grün gestreiften Jacke. Ein «Jamaican E.T.» – um es mit dem Namen seines Grammy-Albums von 2003 zu sagen – mitten in einer unscheinbaren Gegend zwischen Schweizer Bergen.
Dieser Videoausschnitt wird gerade im Cabaret Voltaire in Zürich gezeigt. Es ist die erste institutionelle Einzelausstellung von Perrys Kunstwerken in Europa. Für einmal geht es vorrangig nicht um seine Musik – wenn man diese denn von seiner bildenden Kunst überhaupt trennen kann.
Perry gilt als Pionier des Reggae und produzierte Anfang der 1970er Jahre in Jamaica Songs von The Wailers und Bob Marley oder Junior Murvin. Das «Black Ark», sein erstes eigenes Studio in der Hauptstadt Kingston, hinkte dem technischen Fortschritt hinterher. Dennoch erschuf Perry in der kleinen rudimentären Hütte in seinem Hinterhof innovative Tracks, die ihn weltberühmt machten.
Perry, der sich selbst «the upsetter» nannte, spann Reggae-Songs weiter und mischte das Rohmaterial neu ab. Er blendete Instrumente ein und andere aus, überlagerte die Spuren mit Soundeffekten, zum Beispiel zerbrochenem Glas, Seufzern, fallendem Regen – oder Kuhgeräuschen, die er durch eine mit Zinnfolie umwickelte Kartonröhre erzeugte.
Er mixte alle möglichen Musikstile, erschuf neue Kompositionen und erfand so den Remix und das Mash-up, bei dem durch Sampling eine Musikcollage aus Tonaufnahmen entsteht. Der Sound unterschied sich radikal von der damaligen jamaicanischen Musikszene und wurde als das elektronische Subgenre Dub bekannt.
Als das «Black Ark» 1979 abbrannte, führte Perry ein Nomadenleben, bis er sich in der Schweiz niederliess. An einem Konzert hatte er die Zürcherin Mireille Rüegg-Campbell, eine ehemalige Domina und Reggae-Plattenverkäuferin, kennengelernt, die er Anfang der 90er Jahre im Zürcher Krishna-Tempel heiratete. Sie wohnten zunächst am Zürichsee, später im Kanton Schwyz. Hier errichtete er in einer Garage eines Einfamilienhauses ein neues Tonstudio, das «Blue Ark».
Kunst im Studio
Perrys legendäre Tonstudios waren Instrument und Kunstwerk zugleich. Hier schuf er nicht nur Musik. Das lässt derzeit das Cabaret Voltaire erahnen, wo Studiotüren, ein grosser bemalter und beklebter Heizungsradiator und Collagen im Gewölbekeller ausgestellt sind. Das meiste Material stammt direkt aus dem fast leer geräumten Studio des 2021 verstorbenen Perry in Einsiedeln, wo es wohl weniger steril und ordentlich war.
Es gibt wenig zu sehen, aber das wenige sprüht vor Perrys phantasievoller Kreativität. Seine Kunst war wie seine Musik, ein laufender Prozess. Er schrieb auf die Wände, klebte, malte, schmückte Türen und Equipment. Er installierte Videoaufnahmen, schuf Assemblagen mit Malerei, religiösen und popkulturellen Bildern, Broschüren, Fundstücken.
Der Raum wird dadurch zu einem quasireligiösen Ort: «Das Studio muss wie ein lebendiges Wesen sein», sagte Perry. Der Do-it-yourself-Charakter und die Verwendung von Alltagsgegenständen wie CD oder einer mit Wasser gefüllten PET-Flasche verbinden seine Kunst mit den Montagen und Readymade-Objekten der Zürcher Dada-Künstler.
Und da sind diese Steinhaufen. Rainford Hugh Perry, wie er mit bürgerlichem Namen hiess, Sohn eines Strassenarbeiters und einer Zuckerrohr-Erntehelferin, verliess mit 15 Jahren die Schule. In seinen Anfängen verdiente er seinen Unterhalt unter anderem als Domino-Spieler und Bagger-Fahrer. «Als ich mit dem Gestein arbeitete, nahm ich diese akustischen Vibrationen wahr», sagte Perry über seine Arbeit auf dem Bau. Die Steine seien es gewesen, die ihm damals befohlen hätten, in die jamaicanische Hauptstadt Kingston zu ziehen und der Welt seine Musik zu schenken.
Die Schweiz als Heimat
Beide Heimaten, Jamaica wie die Schweiz, prägten ihn. Das zeigt eines seiner Werke, auf dem Perry, der den Vegetarismus hochhielt, ein Poster mit dem Titel «Fische der Schweiz» verwendete. Er collagierte es neben ein Bild der Schwarzen Madonna, des Gnadenbilds aus Einsiedeln, das bei der schwarzen Diaspora beliebt ist, und von Haile Selassie, dem letzten Kaiser Äthiopiens.
Selassie wird von vielen Anhängern der Rastafari-Bewegung als personifizierte Wiederkehr Jesu Christi verehrt. Er wird als politischer Führer und spirituelles Symbol für die Befreiung der afrikanischen Identität verehrt. Das westliche politische System, Babylon genannt, wird dagegen als korrupt und diskriminierend gesehen. Dieser verdorbenen Welt wollte auch Perry spirituell etwas entgegensetzen. Er verstand seine Kunst als Medizin für Körper und Seele, befasste sich mit Kosmologie, Mystik und der natürlichen Welt.
Die Berge seien Dub-Instrumente, sagte einst der Schweizer Musikproduzent Dubokaj, der Perry 2017 in seinem Studio traf. Sie erzeugten unzählige Echos von jedem Klang, mit dem sie in Berührung kämen. Vielleicht habe es Perry, der 30 Jahre lang im Klosterdorf Einsiedeln wohnte, deshalb so gut in der Schweiz gefallen. Hallende, atmosphärische, basslastige Klänge zeichnen auch Perrys Dub aus.
Auf dem Cover des Albums «From the Secret Laboratory», wie er sein Schweizer Studio auch nannte, von 1990 posiert Perry als König, eine Schweizer Fahne weht vor schneebedeckten Bergen und einem zugefrorenen See. «Ich bin ein bisschen süchtig nach Eis und Schnee», sagte Perry 2010 dem «Magazin». In der Schweiz habe er aufgehört, Alkohol zu trinken und zu rauchen. «Ich tötete den Dämon, als ich merkte, dass ich ihn nicht benötige.» Hier fand er Ruhe, atmete die Luft der Berge und lauschte dem Beat der Regentropfen.
Bis 2015 auch sein Tonstudio in Einsiedeln wegen einer Kerze abbrannte. Ein Grossteil seiner Sammlung an Studioausrüstung, Elektronik, Kunst, Bühnenkostümen als König, Papst, General, Magier ging verloren, auch Musik. Kurz vor seinem Tod ist Perry mit seiner Frau nach Jamaica zurückgekehrt. Im Januar 2021 schrieb er, 85-jährig, auf Instagram, die Schweiz sei «zu kalt» und die «Energie schlecht», er brauche die Sonne Jamaicas.