Die Regierung von Javier Milei will die Geschichte der Militärdiktatur in Argentinien neu schreiben
Präsident Javier Milei und die Vizepräsidentin Victoria Villarruel wollen die Zeit der Militärdiktatur neu aufarbeiten. Natacha Pisarenko / AP
Wer vom internationalen Flughafen Ezeiza in Richtung des Stadtzentrums von Buenos Aires fährt, der überquert nach 20 Kilometern eine Brücke. Puente Nr. 12 heisst sie. Neben ihr gibt es ein verwildertes Gelände von der Grösse eines Fussballfeldes. Zwischen Unkraut sind Fundamente von Häusern zu sehen. Doch nichts erinnert an die brutalen Ereignisse, die hier stattgefunden haben. Genau das ist auch die Absicht.
Erst wenn Silvia Saladino erzählt, bekommt das Gelände Konturen. Die resolute Mutter von vier Kindern war hier ab Juli 1978 nach eigenen Angaben 50 bis 60 Tage gefangen. So genau weiss sie das nicht mehr. Die damals Zwanzigjährige musste Tag und Nacht eine Kapuze tragen und verlor irgendwann das Zeitgefühl.
Drei Gebäude im Landhausstil mit einem Schwimmbad seien damals hier gestanden, erzählt Saladino und zeigt auf Steinreste im Boden: «Das war das Haus der weiblichen Gefangenen.» Es gab auch eines nur für Männer. Im dritten wohnten die Wächter.
Die Gefangenen wurden wie in Schweineställen gehalten
Alle Gefangenen mussten in Bretterverschlägen liegen, wie in einem Schweinestall. Dort warteten sie und hörten zu, wie ihre Mitgefangenen gefoltert wurden. Dafür gab es ein metallenes Bettgestell, das unter Strom gesetzt wurde. «Das war das Schlimmste», beschreibt sie den Horror. Manchmal stimmten die Gefangenen aus verzweifelter Solidarität die Nationalhymne an.
In den zwei Monaten durfte Saladino nur einmal duschen. Durch die Ritzen der zugeklebten Fenster konnte sie die Busse der Linie 86 sehen. Der Coletivo 86 hält dort bis heute. Auch ein Zug war zu hören. Diese Details sollten später wichtig werden.
Wie viele Menschen durch das Folterzentrum El Vesubio geschleust wurden, ist bis heute unklar. 400 Menschen könnten es gewesen sein, vielleicht auch viel mehr. Die Grundschullehrerin Saladino wurde damals hierhin verschleppt, weil sie Mitglied der Vanguardia Comunista war, einer der vielen linken Organisationen des Landes.
Argentinien steckte vor fünfzig Jahren in einer Abwärtsspirale gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Terroristen. Die linksperonistischen Montoneros und die Revolutionäre Volksarmee (ERP) töteten Hunderte von Militärs und Polizisten und entführten zahlreiche Unternehmer. Die rechtsnationale Todesschwadron Alianza Anticomunista Argentina schlug mit Duldung der Regierung und Unterstützung von Militärs und Polizei gegen Linke zu.
1976 schliesslich putschten die Militärs und errichteten eine der brutalsten Diktaturen Lateinamerikas, die bis 1983 dauerte. «Wir mussten eine grosse Anzahl von Menschen beseitigen, um die soziale Ordnung wiederherzustellen», rechtfertigte der Junta-General Jorge Videla später die staatlichen Massenmorde. 8000 Menschen seien von der Diktatur getötet worden, brüstete er sich. Es waren Linksterroristen und deren tatsächliche oder vermeintliche Sympathisanten: Studenten, Gewerkschafter und linke Politiker.
«Ein Krieg gegen den Kommunismus»
Die Frage, wie mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte umgegangen werden soll, ist mit Javier Milei als Präsident wieder auf die politische Agenda gerückt. Der libertäre Ökonom selbst hat sich bisher zurückgehalten mit Kommentaren – doch seinen Wahlsieg verdankt er auch den Stimmen am rechten Rand des Wählerspektrums. Diesen bespielt seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie ist auch die Vorsitzende des Senats und damit derzeit die zweitmächtigste Person in Argentiniens Politik. Sollte der so explosive wie unberechenbare Milei sein Amt verlieren oder zurücktreten, dann würde sie seine Nachfolgerin.
Victoria Villarruel, eine 48-jährige Juristin, ist Tochter und Enkelin von Generälen. Einer ihrer Onkel war wegen Verbrechen in der Diktatur angeklagt. Sie besuchte den inhaftierten Videla einst im Gefängnis. Sie will nun, dass die offizielle Geschichte des damaligen schmutzigen Krieges neu geschrieben wird.
«Alles, was Sie in den letzten vierzig Jahren über die argentinische Republik und ihre Vergangenheit gehört haben, ist falsch», sagte Villarruel kürzlich auf einer Konferenz der spanischen Rechtspartei Vox. Argentinien sei ein Konfliktherd des Kalten Krieges gewesen. Die linken Guerillagruppen hätten einen kommunistischen Staat wie in Kuba errichten wollen. Das hätten die Militärs verhindert. Es habe kein Genozid stattgefunden – wie auf der Linken heute argumentiert werde –, sondern ein Krieg. «Diejenigen, welche gegen den Terrorismus kämpften, sitzen heute in Haft», sagt Villarruel. Es sei an der Zeit, sie zu rehabilitieren.
Über die Zahl der Opfer wird seit Jahrzehnten gestritten
Villarruel will auch die Opfer des Linksterrorismus entschädigen – was bisher nicht geschehen ist. Dafür hat sie das Zentrum für Studien über Terrorismus und seine Opfer gegründet und ist dessen Präsidentin. 1094 zivile Opfer der Linksguerilla zählt das Institut. Der Justizminister Mariano Cúneo Libarona hat angekündigt, alle Entschädigungszahlungen der letzten Jahre überprüfen zu lassen.
Menschenrechtsorganisationen in Argentinien geben die Zahl der Opfer des Staatsterrors mit 30 000 an. Villarruel zweifelt diese Zahl an – so wie Milei und andere auch. «Es gab nicht 30 000 Tote und Verschwundene, sondern 8753», erklärte er im Wahlkampf. «Wir kämpfen gegen ein verzerrtes Bild der Geschichte.» Der Hashtag #NoFueron30000 (#EsWarenkeine 30000) ist zum digitalen Slogan von Milei und Villarruel in dieser Diskussion geworden.
Die Debatte über die Opferzahlen wird seit Jahrzehnten geführt. In Buenos Aires erinnert der Parque de la Memoria an die etwa 8800 namentlich bekannten Opfer des Regimes. Ihre Namen sind in Granitblöcke eingraviert. Auch die bekannte Menschenrechtsaktivistin Graciela Fernández Meijide sagt, dass die Opferzahl kurz nach der Diktatur so hoch angegeben worden sei, um die Welt auf das, was sie als Völkermord bezeichnet, hinzuweisen. Daneben gebe es die Zahl der dokumentierten Opfer.
Doch in Argentinien unter Milei geht es um mehr als einen Streit um Opferzahlen. Die Regierung will ein neues Kapitel der Vergangenheitsbewältigung schreiben. Das ist politisch riskant. Damit werden Gräben geöffnet. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen war ein zwanzig Jahre dauerndes Kräftemessen zwischen rechts und links.
Zur Erinnerung: Nach dem Ende der Diktatur 1983 wurden zwar einige Junta-Generäle verurteilt, aber alle Untergebenen wurden freigesprochen. Sie hätten nur Befehle befolgt, wurde argumentiert. Präsident Carlos Menem erteilte 1990 eine Amnestie für die verurteilten Militärführer. Berüchtigte Folterer waren rehabilitiert. Man konnte sie danach in den Cafés in Buenos Aires antreffen. Die Diktatur sollte vergessen werden.
Die Militärs verwischten alle Spuren – und schwiegen
Doch die generelle Amnestie wurde 2003 vom argentinischen Kongress annulliert und 2005 vom Obersten Gerichtshof abschliessend für verfassungswidrig erklärt. Auch die durch Präsident Menem erteilten Begnadigungen wurden aufgehoben. Aber die Beweislage für Strafverfahren blieb schwierig. Die Militärs hielten eisern ihr Schweigegelübde. Die Schergen der Diktatur hatten alles getan, um ihre Spuren zu verwischen.
1978 schon machten sie das Folterzentrum El Vesubio dem Erdboden gleich. Der Grund: Im gleichen Jahr fand die Fussball-Weltmeisterschaft in Argentinien statt. Die Junta kam wegen der zunehmenden Berichte über Menschenrechtsverletzungen unter Druck. Ein Folterzentrum in Sichtweite der Flughafenautobahn wäre zu riskant gewesen.
Saladino ist eine der wenigen Gefangenen, welche die Folter in El Vesubio überlebt haben. Ob es an ihrem Vater lag, dass sie freikam? Er war ein Befürworter der Militärdiktatur. Vielleicht liess er seine Kontakte spielen. Saladino kam in ein normales Gefängnis und verbüsste noch eine mehrmonatige Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in einer linken Organisation. Dann wurde sie freigelassen.
Sie schwieg zwanzig Jahre, weil sie sich schämte, überlebt zu haben
Zwanzig Jahre schwieg sie über ihre Erfahrungen. «Ich schämte mich, überlebt zu haben», sagt die heute 66-Jährige. Doch dann hätten sie Kinder von Gefolterten aufgesucht und sie gebeten, ihre Erfahrungen zu schildern. «Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass meine Worte etwas bewirken können.»
Da war das Folterzentrum El Vesubio schon fast in Vergessenheit geraten. Es waren die Aussagen von Zeugen wie Saladino, die schliesslich eine Prozesslawine ins Rollen brachten. Mit Details wie der Bushaltestelle und dem nahen Zug konnte die Existenz von El Vesubio belegt werden. Mit aufgeschnappten familiären Details aus den Gesprächen der Folterer konnte die Justiz einige von ihnen ausfindig machen. Rund 1200 Personen sind bis heute wegen Verbrechen unter der Diktatur verurteilt worden. Rund 60 Verfahren laufen noch. Die Angeklagten sind alt. Sie sterben oft vor der Urteilsverkündung.
Argentinien ist damit einer der wenigen Staaten Lateinamerikas, in denen die Militärs zur Rechenschaft gezogen wurden. Anders etwa als in Brasilien, Uruguay oder Peru gibt es Mahnmale, die an die dunkle Vergangenheit erinnern: Die Erinnerungsstätte der berüchtigten Escuela de Mecánica de la Armada (Esma), der Offiziersschule der Marine, ist seit letztem Jahr Unesco-Welterbe. Sie ist eines der beklemmendsten Monumente zur Erinnerung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Lateinamerika.
Dort betrieben die Militärs das grösste Geheimgefängnis der Diktatur. Etwa 5000 Menschen wurden dort gefoltert und anschliessend ermordet. Viele wurden sediert und von einem Flugzeug aus lebend in die Mündung des La-Plata-Flusses geworfen. Nur etwa 200 überlebten.
Unter dem Dachstuhl vegetierten die Gefangenen. Im Keller wurden sie gefoltert. In den zwei Stockwerken dazwischen lebten die Kadetten. Sie müssen den Opfern in Kapuzen auf der engen Treppe öfter begegnet sein.
Die Militärs kollaborierten nicht bei der Aufarbeitung
Im Erdgeschoss über dem Folterkeller hatte der Direktor eine grossbürgerliche Wohnung. Er stritt ab, etwas von den Folterungen gewusst zu haben. Doch die Aussage einer damals elfjährigen Freundin seiner Tochter überführte ihn. Sie hatte beim Spielen beobachtet, wie Menschen mit Kapuzen in das Gebäude geführt wurden.
Präsident Néstor Kirchner beschlagnahmte die Offiziersschule 2004, um sie in eine Gedenkstätte umzuwandeln. Eine symbolische Aktion ist davon in Erinnerung geblieben: Kirchner liess in der Militärschule die Porträts der Diktatoren Videla und Bignone abhängen – vor den versammelten Kadetten und dem Heereschef persönlich. Ein Akt, den die linken Präsidenten in Brasilien oder Chile bis heute nicht wagen würden.
Sollen die Militärs doch wieder freigesprochen werden?
Villarruel will die Gedenkstätten der Esma in Schulen umwandeln. Für sie geht die Vergangenheitsbewältigung auf einen korrupten Filz zurück, der einfach an Subventionen und Entschädigungen interessiert war. Viele konservative Argentinier stimmen ihr zu. Das sind gar nicht so wenige. Eine Umfrage von Opina Argentina kurz vor dem Amtsantritt Mileis Ende letzten Jahres bestätigt das: Demnach sprachen sich 27 Prozent der Befragten dafür aus, die Militärs nachträglich wieder freizusprechen.
Umso wichtiger sei es, dass El Vesubio zur Gedenkstätte werde, sagt Saladino am Ausgang des Geländes. Die Menschenrechtsverletzungen dürften nicht vergessen werden. Sie zeigt zum Bus, aus dem gerade zur Mittagszeit Schulkinder in Uniformen aussteigen. «Sonst kommen die Kinder hier jeden Tag weiter vorbei und wissen nicht, was hier geschehen ist.»