Die ostukrainische Stadt Charkiw steht wieder unter unablässigem Bombardement
«Kommen Sie, kommen Sie, sehen Sie sich an, was sie mit meinem Haus gemacht haben», ruft Valeri, ein 74-jähriger Mann aus dem Stadtteil Cholodohirski in Charkiw. Er kämpft sich vorbei an den vor Anstrengung keuchenden Feuerwehrleuten und den von der Zerstörung erschreckten Schaulustigen und geht langsam die Gasse hinauf zu seinem Haus, dessen Fenster durch die Explosion zerbrochen worden sind. «Ich war auf dem Heimweg, als es passierte», sagt er. «Zum Glück war ich nicht im Haus.»
Am Nachmittag schoss eine russische Gleitbombe durch den blauen, wolkenlosen Himmel und schlug in dem Wohnviertel ein. Sie zerstörte zwei Häuser und beschädigte etwa zehn weitere. Eine Frau liegt auf der Strasse, ihr Fuss schaut unter einem bunten Leintuch heraus. Laut einem Bericht, der nach dem Angriff auf der städtischen Nachrichtenwebsite erschien, wurde die 82-Jährige von Rettungskräften in den Trümmern ihres Hauses gefunden. Die Frau war gebrechlich und wurde in ihrem Bett getötet. Bei dem Angriff erlitten zudem zwei weitere Personen, ebenfalls Rentner, Verletzungen.
Die Quartierbewohner sind fassungslos und wütend, sie scheinen jedoch nicht überrascht zu sein: Russland greift Charkiw, die zweitgrösste ukrainische Stadt, wieder vermehrt an, zerstört die Energieanlagen und trifft wahllos Wohnviertel, Geschäfte und Bildungseinrichtungen. «Die Lage ist sehr schwierig: Ende letzten Jahres haben die Russen begonnen, die Stadt intensiv zu bombardieren», erzählt der Stadtpräsident Ihor Terechow. Sein Gesicht ist von Müdigkeit gezeichnet. Jedes Wort abwägend, prangert er die «Terrorstrategie» der russischen Armee an: «Sie wollen die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen und dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr in Charkiw wohnen können.»
Rettungskräfte untersuchen die Schäden nach einem erneuten russischen Raketenangriff auf Charkiw, bei dem eine Person getötet wurde. ; Anadolu / Getty
Die nur dreissig Kilometer von der russischen Grenze entfernte Stadt war bereits zu Beginn des russischen Einmarsches Schauplatz heftiger Kämpfe gewesen und dann einem unablässigen und wahllosen Bombardement ausgesetzt, von dem die breiten Strassen noch immer gezeichnet sind: Gebäude mit von Granatsplittern zerfetzten Fassaden sind ebenso zahlreich wie leere Ladenfronten und mit Sperrholz verkleidete Fenster. Zwar hörten die Angriffe nie ganz auf, doch im Laufe des vergangenen Jahres nahm ihre Heftigkeit ab. Das bewegte viele Bewohner, die die Stadt verlassen hatten, zur Rückkehr. Laut Stadtpräsident Terechow zählt Charkiw derzeit 1,3 Millionen Einwohner, während es wenige Wochen nach Kriegsbeginn nur noch 300 000 waren.
Die übel zugerichtete «Heldenstadt der Ukraine» passte sich den neuen Gegebenheiten an: Ab August 2023 wurden Korridore in mehreren U-Bahn-Stationen zu Klassenzimmern umgebaut, in denen 2200 Schüler jeden Alters Platz fanden. Doch in den letzten Monaten verstärkte Russland nicht nur seine Angriffe mit Raketen und Gleitbomben wieder, sondern verschärfte auch den Ton: Ende April erklärte der russische Aussenminister Sergei Lawrow, in Präsident Wladimir Putins Plänen zur Schaffung einer «entmilitarisierten Zone» zum Schutz der russischen Grenzregionen vor ukrainischen Angriffen nehme Charkiw einen wichtigen Platz ein.
«Unsere Spezialdienste bestätigen, dass die Russen tatsächlich einen Plan haben, um Charkiw oder Sumi einzunehmen. Aber wir wissen nicht, wie ernst sie diese Pläne verfolgen und ob sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kräften in der Lage sind, sie umzusetzen», sagt Olexander Pawliuk, Kommandant der ukrainischen Landstreitkräfte, in einem Interview mit der britischen Tageszeitung «The Times».
Doch in den Augen von Stadtpräsident Terechow unterschätzt Russland die Widerstandsfähigkeit von Valeri, dem Rentner, und den anderen Bewohnern von Charkiw: «Natürlich ist die Situation schwierig, aber etliche von ihnen wollen nicht mehr weg: Es ist ihre Stadt, viele sind hier geboren, haben hier gearbeitet und ihr ganzes Leben lang gelebt», erklärt er. «Sie lieben Charkiw, und sie wollen in ihrer Heimat bleiben, in Frieden.»