Die Crux mit dem grünen Diesel
Zapfsäule für den neuen Klimaschutz-Diesel HVO 100
Der Bundesverkehrsminister spricht von „einem wichtigen Schritt“ für den Klimaschutz im Verkehr. Zu erwarten sei „ein wirksamer Beitrag“ zur Verringerung des CO2-Ausstoßes deutscher Autos, freut sich Volker Wissing. Die Rede ist von einem neuen, als klimaschonend eingestuften synthetischen Dieselkraftstoff. Er darf in Zukunft an deutschen Tankstellen angeboten werden, nachdem das Bundeskabinett dafür kürzlich den Weg frei gemacht hat. Diesel ist in Deutschland gemessen am Verbrauch der mit Abstand wichtigste Kraftstoff.
Bisher noch ziemlich selten: Tankstelle für HVO 100
Der neue Klimaschutzdiesel wird als XTL oder HVO 100 bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen vollständig synthetisch erzeugten Treibstoff, der keine fossile Energie enthält. Nach Industrieangaben wird er vorwiegend aus pflanzlichen Rest- und Abfallstoffen wie etwa Lebensmittelresten, Altspeisefetten und Klärschlämmen hergestellt.
Der Klimavorteil, den die Kraftstoffhersteller versprechen: Im Vergleich zu rein fossilem Diesel sinken die Treibhausgasemissionen durch HVO 100 um bis zu 90 Prozent. Diese Zahl nennt auch der FDP-Minister Wissing, der seit Jahren dafür streitet, beim Klimaschutz im Straßenverkehr nicht nur auf Elektroautos zu setzen, sondern auch auf die Möglichkeit, Autos mit Verbrennungsmotor mit klimaschonendem Sprit zu betanken.
HVO 100 gehört zur Gattung der synthetischen Treibstoffe, die Fachleute als XTL bezeichnen. Das Kürzel steht für „X to liquid“. Gemeint ist mit diesem Sammelbegriff, dass bei der Herstellung verschiedenste Rohstoffe – wofür das X im Kürzel steht – in einen flüssigen Energieträger umgewandelt werden. Bei dessen Verbrennung wird zwar CO2 freigesetzt, aber bei der Verwendung pflanzlicher Rohstoffe ist das Treibhausgas zuvor beim Wachsen der Pflanzen der Atmosphäre entzogen worden.
Am Mittwoch den 24.04.2024 verkauft die ROTH ENERGIE Tankstelle an der Borsigallee einen HVO100 Diesel (XTL Synthetikkraftstoff)
Bilanziell weitgehend klimaneutral
Am Mittwoch den 24.04.2024 tankt ein Autofahrer Diesel an der ROTH ENERGIE Tankstelle an der Borsigallee
Bilanziell ist der Kraftstoff deshalb weitgehend klimaneutral. In Zukunft sollen synthetische Kraftstoffe im industriellen Maßstab auch aus klimaschonend mithilfe von erneuerbarem Strom hergestelltem, „grünem“ Wasserstoff produziert werden. Aber der massenhafte Einsatz der sogenannten E-Fuels ist bisher noch weitgehend Zukunftsmusik.
HVO 100 ist dagegen heute schon verfügbar. In anderen Ländern gibt es den nichtfossilen Dieselkraftstoff schon länger, etwa in Skandinavien, Italien, den Niederlanden und im US-Bundesstaat Kalifornien. Jetzt darf er auch an Tankstellen in Deutschland vertrieben werden – und soll dazu beitragen, eines der schwierigsten Probleme beim Klimaschutz im Straßenverkehr zu lösen: Was soll mit den vielen Millionen älteren Verbrennerautos geschehen, die absehbar auch noch im nächsten Jahrzehnt auf deutschen Straßen unterwegs sein werden?
Schließlich werden Personenwagen hierzulande im Schnitt rund 15 Jahre genutzt. Nichtfossile Synthetik-Kraftstoffe wie HVO 100 sind eine Möglichkeit, um auch diese älteren Autos mit Verbrennungsmotor auf Klimaschutz zu trimmen. Das ist ein entscheidender Vorteil, eben weil Verbrennerautos derzeit noch die große Mehrheit der Fahrzeugflotte bilden. Der Anteil der vollelektrischen Autos am Fahrzeugbestand liegt in Deutschland aktuell nur bei rund drei Prozent.
Höherer Preis
Der neue Dieselkraftstoff ist allerdings teurer als konventioneller. Zwar ist HVO 100 von der CO2-Steuer befreit, die herkömmlichen Diesel aktuell um rund 14 Cent je Liter verteuert. Aber die Herstellungskosten des Synthetikdiesels sind höher als die von herkömmlichem Diesel. Unterm Strich sei aktuell mit einem Preisaufschlag von etwa 9 Cent je Liter gegenüber konventionellem B7-Diesel zu rechnen, teilt etwa die Berliner Tankstellengruppe Sprint mit, die HVO am Freitag neu ins Sortiment nahm. Andere in der Branche erwarten, dass sich der Aufpreis vorerst eher bei 20 bis 30 Cent einpendeln wird, also deutlich höher.
Bevor Autofahrer HVO 100 tanken, sollten sie klären, ob der Motor ihres Wagens für den neuen Kraftstoff geeignet ist. Eine Liste der dafür freigegebenen Automodelle findet sich beim Autodatendienstleister Deutsche Automobil Treuhand (DAT). Auch Hersteller und ihre Vertragshändler können Auskunft geben. Fachleute raten Autofahrern davon ab, HVO 100 statt normalem Diesel zu tanken, wenn ihr Fahrzeug keine Freigabe dafür hat.
Ohnehin ist der neue Klimaschutz-Diesel derzeit nur an den wenigsten der derzeit mehr als 14.000 deutschen Tankstellen verfügbar. Die jeweiligen Zapfsäulen sind mit „XTL“ gekennzeichnet. Auf der Internetseite des Vereins eFuels Now gibt es eine Karte mit Stationen, die HVO 100 bereits führen. Aktuell sind dort in Deutschland nur einige Dutzend Tankstellen verzeichnet. In Frankfurt und München etwa sind es demnach jeweils nur zwei. Ähnlich dünn ist das Angebot auch in anderen Großstädten wie Berlin und Hamburg.
Große Tankstellenketten warten ab
Eine Umfrage der F.A.S. zeigt, dass es bei den großen Tankstellenketten überwiegend keine konkreten Pläne gibt, HVO 100 einzuführen. „Aktuell können wir noch keine Angaben machen, wann und wo eine Einführung geplant ist“, heißt es vom Marktführer Aral. Ähnlich äußern sich auch Esso, Jet und Total. Shell will die neue Dieselsorte zunächst nur testweise an zwölf deutschen Tankstellen anbieten – und dort auch nur an den Zapfsäulen für Lastwagen. Auch Aral rechnet damit, dass HVO 100 vor allem für Lastwagen relevant werden könnte. Denn anders als bei Personenwagen ist bei den Lastern der batterieelektrische Antrieb noch die ganz große Ausnahme. Umso wichtiger ist es, für die Nutzfahrzeuge demnächst Alternativen zum fossilen Diesel anzubieten.
Eine Ausnahme unter den führenden Tankstellenketten bildet die Avia-Gruppe, die nicht nur die Logistikbranche, sondern auch private Autofahrer als Kundengruppe anpeilt. Man wolle HVO 100 „zügig an möglichst vielen Tankstellen anbieten“, teilt das Unternehmen mit. Derzeit bereiteten rund 30 der knapp 900 Avia-Stationen die Einführung vor. Allerdings müssten dafür an den Tankstellen freie Kammern verfügbar sein. Unter den Tankstellen, die heute schon HVO 100 anbieten, sind außerdem viele freie Anbieter, die im Verband BFT zusammengeschlossen sind. Der bezeichnet HVO 100 als „den neuen Stern am Himmel der nachhaltigen Kraftstoffe“.
HVO wird aus hydrierten Pflanzenölen hergestellt. Der Name leitet sich aus dem englischen Begriff dafür ab: hydrotreated vegetable oils. Das Herstellungsverfahren erläutert zum Beispiel der ADAC auf seiner Homepage: Es werden Pflanzenöle unter hohem Druck und hohen Temperaturen durch eine Reaktion mit Wasserstoff in Kohlenwasserstoff umgewandelt. Durch diesen Prozess werden sie in ihren Eigenschaften an fossile Kraftstoffe, insbesondere Diesel, angepasst. Das HVO kann entweder wie bei HVO 100 in Reinform als Kraftstoff vertrieben werden, oder es wird herkömmlichem Diesel beigemischt.
Beschränkte Produktionskapazitäten
Als Vorteil von HVO 100 gilt, dass der Treibstoff überwiegend aus Abfällen und Reststoffen erzeugt wird. Anders als bei Biokraftstoffen, die etwa aus Raps oder Zuckerrohr hergestellt werden, geht die Produktion des neu eingeführten Diesels also nicht auf Kosten des Anbaus von Pflanzen für die Nahrungsmittelproduktion. Diese Konkurrenz zwischen „Tank und Teller“ ist ein häufig vorgebrachter Kritikpunkt gegenüber Biokraftstoffen.
Ein wesentliches Problem bei HVO 100 ist jedoch die nur eingeschränkte Verfügbarkeit des Kraftstoffs. Die Produktionskapazitäten der Industrie sind bislang eher überschaubar. In Deutschland gibt es zurzeit gar keine Raffinerie, die HVO 100 herstellt. Eine große Produktionsanlage ist im niederländischen Rotterdam in Betrieb. Eigentümer ist der finnische Kraftstoffhersteller Neste.
„Man sollte nicht davon ausgehen, dass HVO 100 schnell große Teile des Dieselverkehrs in Deutschland nachhaltig machen wird“, heißt es vom Wirtschaftverband Fuels and Energy (en2x). Schätzungen zufolge wird die weltweite Produktionskapazität für HVO 100 bis 2025 auf rund 30 Millionen Tonnen im Jahr steigen. Zum Vergleich: Allein Deutschland verbraucht jährlich rund 32 Millionen Tonnen Dieselkraftstoff.