Deutscher Fußball: Deutschland redet über Mentalität, andere probieren es mit Strategie
Die Bundesliga ist zwar immer mal wieder erfolgreich. Doch nur Xabi Alonso und Leverkusen haben eine Spielidee. Eine sportliche Grundsatzkritik am deutschen Fußball
Trägt internationale Größen in sich: Xabi Alonso.
Frage: Herr Lahm, Xabi Alonso dominiert ausgerechnet mit Leverkusen die Bundesliga, und plötzlich stehen Bayern und Dortmund im Halbfinale der Champions League. Europas Presse fragt Sie: Wie passt das zusammen und was sagt das über den deutschen Fußball?
Fußball ist, zum Glück, ein Spiel. Über Sieg und Niederlage entscheidet schon mal der Zufall. Wenn die Besten der Besten aufeinandertreffen, zu 20 Prozent, schätze ich. Das Los erhöht noch mal den Faktor Glück. Das ist schön, es ermöglicht neue Gewinner.
Im Viertelfinale der Champions League führte es Man City und Real Madrid zusammen, seit drei Jahren das spektakulärste Duell im europäischen Fußball. Es hielt auch diesmal alle Versprechen und begeisterte mit Intensität und tollen Toren. Im Rückspiel ließ Carlo Ancelotti alle verteidigen und sagte, nur so habe Real eine Chance gehabt. Im Elfmeterschießen entschied die Psychologie.
Gäbe es im Vereinsfußball eine Weltrangliste wie im Tennis, wäre klar, wer die Nummer eins ist. In den vergangenen fünf Jahren hat City die meisten Punkte in der nationalen Liga geholt, im Vorjahr auch international gesiegt. Pep Guardiolas himmelblaue Maschine produziert konstant Präzision. Auf Platz zwei stünde Real. In dem Verein steckt die Größe von 14 Europapokaltiteln, als erster gewann er, was zuvor undenkbar schien, drei in Serie. Unter Ancelotti erfindet er sich wieder neu. Gäbe es eine Setzliste wie im Tennis, wäre diese Paarung das natürliche Finale.
Das Beispiel Tah zeigt: Ein Trainer ist wichtig für einen Fußballer
In diesem Jahr fordert auch Liverpool wieder City heraus. Jürgen Klopp baut ungefähr alle drei Jahre eine physisch starke Mannschaft, die die himmelblaue Maschine mit Konterfußball aus dem Takt bringt. Im Spitzenspiel der Premier League hatten die Reds den Sieg verdient, so unterlegen sieht man City sehr selten. Ohne Rodri wäre die Maschine wohl zerlegt worden. (Meiner Meinung nach hätte es Rodri auch mal verdient, zum Weltfußballer gewählt zu werden.)
Alle Zutaten für Spitzenfußball sind in Manchester, Madrid und Liverpool vorhanden: mit die besten Spieler und die besten Trainer, die über Jahre eine Mannschaft entwickeln. In der Bundesliga ist Xabi Alonso der beste Trainer. Er war ein Spitzenfußballer und schon auf dem Platz ein Stratege. Jetzt hat er bereits in seiner ersten kompletten Saison in Leverkusen eine Mannschaft mit Stil geformt, die verdient Deutscher Meister wird.
Geprägt wurde Alonso in den großen Vereinen Liverpool, Real und Bayern. Dort hat er die Schulen internationaler Größen durchlaufen. Rafael Benítez und José Mourinho wollten dem Gegner den Weg zum Tor verstellen und den Moment des Ballgewinns optimal ausnutzen. Die offensive Antwort hat Guardiola gegeben, sein Ballbesitz in der Gegnerhälfte verlangt einen noch höheren Organisationsgrad.
Nun findet man diejenigen, die für Erfolg stehen, in der Bundesliga. Benítez, Mourinho, Guardiola – sie alle stecken in Alonso. Seinen Spielern gibt er damit Sicherheit und Selbstvertrauen. Florian Wirtz, der wohl alles zum herausragenden Offensivspieler mitbringt, wird von ihm geformt. Jonathan Tah kann besonders dankbar sein. Ihm sah man schon im Alter von 18 an, dass er ein sehr guter Verteidiger werden kann. Dann tauchte er ab. Jetzt, mit 28, ist er wieder aufgetaucht. Das Beispiel zeigt, wie wichtig ein Trainer für einen Fußballer ist.
Es ist schon interessant, dass ausgerechnet Leverkusen die elfjährige Serie der Bayern beendet. Zu den 20 umsatzstärksten Vereinen Europas zählt die Uefa aus Deutschland den FC Bayern, Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt. Leverkusen gehört nicht dazu. Früher spielten dort noch Emerson, Michael Ballack, Lucio, Zé Roberto oder Bernd Schneider, der Verein stand 2002 im Champions-League-Finale. Heute gibt das der Standort nicht mehr her, größere Vereine würden Leverkusen solche Topstars sofort abkaufen. Der aktuelle Kader war vor der Saison etwa halb so viel wert wie der der Bayern.
Daher erinnert mich Leverkusens Meisterschaft ein wenig an die von Leicester City 2016 in England. Das ist nicht mehr möglich, weil der Wettbewerb in der Premier League seitdem rasant angezogen hat. In Manchester und Liverpool wird eben nicht nur sehr viel Geld investiert, sondern auch nach dem Plan eines klugen Trainers gehandelt. Inzwischen tut das auch Arsenal unter dem Guardiola-Schüler Mikel Arteta. Alle drei Mannschaften holen in dieser Saison um die 80 Punkte und mehr. Der Bundesliga fehlt der Konkurrenzkampf auf diesem Niveau.
Weswegen Alonsos Elf in der Bundesliga auf den ersten Blick heraussticht: Sie hat eine Spielidee und unterscheidet sich damit von ihren Gegnern. Andere Nationen, zurzeit vor allem spanische und italienische Trainer, feilen mehr an Struktur, Strategie und Ordnung, während man im deutschen Fußball immer und ausschließlich über Mentalität spricht.
Was schon Gary Lineker verzweifeln ließ
Das ist auch der Grund, warum Spieler wie Jude Bellingham, Kai Havertz und Erling Haaland die Bundesliga verlassen müssen, wenn sie Weltklasse werden wollen. Oder warum das Selbstvertrauen und die Sicherheit von Joshua Kimmich geschwunden sind. Ich erinnere mich gut, wie er beim Einstieg auf die große Bühne von Guardiolas Führung profitierte. Das ist acht Jahre her. Heute ist Kimmich im besten Alter, spielt als Außenverteidiger aber auf einer Position, die nicht ideal zu seinen Anlagen passt. Das ist ungewöhnlich.
Der deutsche Fußball hat andere Tugenden, die Bundesliga hat auch Maschinen. Deren Bauteile sind Kampf, Leidenschaft und Wettkampfhärte. Sie suchen den Schlagabtausch, geben nie auf und dem Zufall eine Chance. Insbesondere der FC Bayern ist unberechenbar, auch Dortmund kann Aufs und Abs überstehen. Ganz zu erklären sind ihre Erfolge nicht immer, und Weltranglistenerster wird man so nicht. Aber diese Charakteristika passen zum Spiel Fußball. Das hat schon Gary Lineker verzweifeln lassen.
Der Einzug von Bayern und Dortmund ins Halbfinale beweist jedenfalls wieder, dass die Bundesliga auf viele Ressourcen zurückgreifen kann. Sie ist die zweitfinanzkräftigste Liga der Welt, kann sich in ganz Europa bedienen, und Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land der EU, was gerade im Fußball wichtig ist.
Da kommt mir Franz Beckenbauer in den Sinn. Nach dem WM-Titel 1990 sagte er, wenn nun auch noch die Ostdeutschen hinzukommen, werde Deutschland auf Jahrzehnte unschlagbar sein. Ganz so kam es nicht, doch das hatte ebenso eine innere Wahrheit wie sein Motto: “Geht’s naus und spuits Fußball!” Macht kein großes Theater, haut ihn rein, erzwingt das Glück!
Aufgezeichnet von Oliver Fritsch