Deutscher Fotograf an der Front: "Einige Bilder sind an einem geheimen Ort entstanden"
Fljora Stasch ist 22 Jahre alt, als er sein Studium in Berlin pausiert und in die Ukraine aufbricht. Er verteilt Hilfslieferungen und evakuiert Menschen aus Frontdörfern. Die Begegnungen dokumentiert er mit seinen Analogkameras. Aber auch an geheimen Übungsplätzen der ukrainischen Armee darf er Fotos machen.
Fljora Stasch hat in der Ukraine
Fljora Stasch ist 22 Jahre alt, als er im April 2023 sein Studium pausiert und seine Heimatstadt Berlin verlässt, um ins Kriegsgebiet in die Ukraine zu fahren. Als freiwilliger Helfer verteilt er humanitäre Hilfslieferungen und evakuiert Menschen aus den ständig beschossenen Dörfern direkt an der Frontlinie. Die Begegnungen mit den alleingelassenen, meist älteren Menschen, die in Hausruinen oder dunklen Kellern leben, dokumentiert er mit seinen Analogkameras. Die Geschichten, die er dabei hört, sind genauso traurig wie haarsträubend. Auch an geheimen Übungsplätzen des ukrainischen Militärs darf der Deutsche Fotos machen.
Fljora Stasch: Ich wusste von Anfang an, dass ich hin will. Gleich nach Kriegsbeginn habe ich versucht, mich Hilfsorganisationen anzuschließen, was zunächst nicht geklappt hat, weil ich keine Erfahrung im medizinischen Bereich hatte und dadurch nicht wirklich was bieten konnte. Schließlich bin ich aber in ein deutsches Unterstützernetzwerk reingekommen. Ich wollte nicht einfach rüberfahren und mit meiner Kamera im Weg stehen, sondern ich wollte auch die Möglichkeit haben, humanitäre Hilfe zu leisten, um die Leute vor Ort zu unterstützen.
Ja, ich wollte den Leuten helfen, aber auch ihr Schicksal zeigen.
Sie hieß “Road to Relief”. Das war eine NGO, die in der Stadt Slowjansk nahe der Frontlinie im Donbass stationiert war. Von dort aus fuhren wir weiter Richtung Front im Osten, wo wir Hilfspakete, Essen, allerlei Dinge auslieferten und Leute evakuierten. Zwischendurch war ich Fahrer, dann Social-Media-Manager. Ich habe überall geholfen, wo es nötig war, und dabei auch Fotos gemacht. Ich war zwei Mal für längere Zeit da und will bald wieder hin.
Ja, Luftalarm gab es mehrfach am Tag. Ich habe in Kramatorsk, einer Nachbarstadt von Slowjansk, gewohnt, also unmittelbar neben der Front. Man hört ständig Explosionen und Schüsse. Der Krieg ist immer präsent. Man sieht zerstörte Häuser überall. Wir mussten oft über eine Pontonbrücke fahren, um zu den Dörfern zu gelangen, wo noch Zivilisten gelebt haben. Und jedes Mal wussten wir nicht, ob wir zurückfahren können, weil diese Brücke regelmäßig bombardiert wurde, und eine andere gab es nicht mehr.
Einmal haben wir unterwegs in einem kleinen Laden Cola und Eis gekauft. Als wir am nächsten Tag dort wieder vorbeigefahren sind, war der Laden nicht mehr da. Er wurde von einer Rakete getroffen, man hat noch gesehen, wie die Trümmer geraucht haben. Zwei Leute sind dabei gestorben. Und man erfährt, dass der Mensch, bei dem man gestern noch seine Cola und Eis gekauft hat, einfach gestorben ist.
Man wird ein bisschen paranoid. Eines Abends, als ich im Bett lag, habe ich von außen ein komisches Piepen gehört. Es war laut und hat sich wie das Sonar eines U-Bootes angehört. Kommt es vom Militär? Kommt jetzt eine Rakete auf uns geflogen? Ich habe ein paar Leute angeschrieben und die wussten auch nicht, was das ist. Ein paar Tage später habe ich dann erfahren, dass es eine Eule war!
Klar, ich habe aber nicht damit gerechnet, dass eine Rakete auf mich zugeflogen kommt. Kramatorsk steht oft unter Beschuss, aber es ist eine größere Stadt. Man sieht zwar jeden Tag Orte, die getroffen wurden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine Rakete ausgerechnet dein Haus trifft, ist relativ gering. Deswegen habe ich mir darüber nicht besonders große Sorgen gemacht. Ich habe mich nur gefragt: Was soll dieses Geräusch? Und das war ein Vogel!
“Die Russen haben unser Leben zweimal ruiniert”
Sie waren zwei Mal für je anderthalb Monate in der Ukraine. Man hört oft von Menschen, die aus den Kriegsgebieten zurückkehren, dass sich für sie das Leben in einer friedlichen Stadt irgendwie falsch anfühlt. Stimmt es?
Ja, definitiv. Ich arbeite in einem Club in Berlin, da prallen schon zwei Welten aufeinander. Ich habe mir mehrmals die Frage gestellt, ob das Leben hier falsch ist, warum wir hier ganz andere Prioritäten haben. Aber es ist einfach ein anderes Leben. Jeder lebt in der Situation, in der er gerade ist. In einer Situation wie der in der Ukraine würden sich die Leute hier auch anders verhalten.
Ich fahre nicht wegen der Explosionen hin. Ich war ja nicht nur an der Front, sondern auch im Nordosten in der Region Tschernihiw. Ich habe dort mit einer anderen Organisation, “Repair Together”, Häuser wiederaufgebaut. Und dort ist es inzwischen relativ ruhig. Und da wollte ich auch hin, weil ich irgendwas machen musste.
Die meisten Fotos, die Sie im Frontgebiet gemacht haben, zeigen ältere Menschen. Warum ist es so? Sind alle anderen weg?
Ja. Geblieben sind nur ältere Menschen, die leider zurückgelassen wurden, die keine Perspektive haben, die nicht wissen, wohin. Und die ihr ganzes Leben an einem Ort verbracht haben und sich nicht vorstellen können, alles, was sie haben, zurückzulassen. Viele haben ihr ganzes Leben lang in der Landwirtschaft gearbeitet und bekommen nur eine kleine Rente. Damit kann man im Westen nicht überleben.
“Roads to Relief” hatte unter anderem medizinisches Personal – um etwa Dorfbewohner an der Frontlinie, wo es keine Ärzte mehr gibt, zu versorgen. Und dieses medizinische Personal hat auch teilweise ukrainische Soldaten ausgebildet. Einige der Fotos sind bei einer solchen Übung an einem geheimen Ort entstanden. Es gab dort auch einen Schießplatz, dort habe ich auch Fotos gemacht.
Ich war der Fahrer an dem Tag. Mir wurde ein Punkt auf der Karte gezeigt, wo wir hinfahren sollten. Wir mussten in den Flugmodus gehen und die Handys ausschalten. Vor Ort mussten wir darauf achten, was wir fotografieren. Verständlicherweise soll nicht rauskommen, wo der Ort ist, weil er dann beschossen wird.
Oft geht es einfach um Vertrauen. Wir sind ja hingefahren, um die Soldaten auszubilden, damit sie sich selbst und ihre Kameraden schützen können.
Ein persönlicher Verlust. Die Gründerin der Organisation, eine Spanierin, und ein weiterer Mitarbeiter, ein Kanadier, wurden bei einem Raketenangriff auf ihr Auto getötet. Sie waren auf einer Mission zu einem Dorf in der Nähe von Bachmut, um zu schauen, ob da noch Zivilisten sind und was sie eventuell benötigen. Und da wurden sie von einer Rakete erwischt. Das Auto hat sich überschlagen und direkt zu brennen angefangen. Aus diesem Grund existiert “Road to Relief” auch nicht mehr.
Waren sie für Sie mehr als Kollegen?
Definitiv. Wenn man eine Weile im Kriegsgebiet lebt und immer wieder Kontakt mit den Menschen hat, dann sind es nicht einfach nur Kollegen, sondern auch Freunde. Man unterhält sich über persönliche Dinge, hat tiefere Gespräche und teilt Momente miteinander. Außerdem habe ich eine Zeit lang mit ihnen zusammengewohnt, das waren meine Mitbewohner.
Ja, klar. Ich habe schon ein paar Mal drüber nachgedacht. Ich möchte aber trotzdem wieder hin. Für mich ist es kein Grund, nicht wieder hinzufahren.
Ich sage nicht, dass ich keine Angst habe. Ich glaube nur, dass den Menschen vor Ort zu helfen wichtiger ist, als Angst zu haben. Man muss nur mit der Angst umgehen können. Ich habe in Kiew eine US-Amerikanerin kennengelernt, und eine Woche später habe ich erfahren, dass sie gestorben ist. Aber nicht an der Front, nicht durch eine Rakete, sondern bei einem Autounfall, weit entfernt von den Kriegshandlungen.
Was hat Sie in der Ukraine am meisten beeindruckt?
Die Positivität der Menschen. Ich glaube, in ihrer Situation kann man gar nicht anders, weil man sonst nicht überlebt. Ich habe einen Mann fotografiert, dessen Sohn entführt und dann getötet wurde. Sein Leichnam lag in einem Schützengraben direkt zwischen den Fronten, also konnte er ihn nicht einmal abholen. Und trotz alldem hat der Mann immer noch Lebensenergie. Er lebt ganz allein an einem Ort, wo es nichts mehr gibt, und er war immer noch positiv drauf. Er machte Witze über seine Situation. Er hat etwa erzählt, wie sein Plumpsklo im Garten von einer Rakete getroffen wurde und er mehrere Monate beim Nachbarn auf die Toilette gehen musste. Und er hat das so lustig erzählt, dass es einfach zum Lachen war.
Ich habe verschiedene Menschen getroffen. Die einen sagen, sie wollen definitiv in der Ukraine leben. Es gibt aber auch welche, die sich von der ukrainischen Regierung allein gelassen fühlen. Ich habe Missstände erlebt, zum Beispiel, wenn Menschen, die keinen Zugang zum Wasser mehr haben, für eine Woche nur drei Liter zugeteilt bekommen. Viele leben seit zwei Jahren in Kellern. Diese Leute wollen einfach nur Frieden, sie wollen einfach in Ruhe gelassen werden.
Leider nicht. Die meisten haben kein Handy und Festnetzanschluss gibt es in vielen Orten auch nicht mehr, auch kein Internet. Man ist abgeschnitten von der Welt. Zu einem Soldaten, den ich bei einer Schießübung fotografiert habe, hatte ich eine Zeitlang Kontakt. Artjom, ein ganz lieber Mensch. Wir haben uns ab und zu geschrieben, er war an der Front, und meinte, dass es schlimmer ist, als man sich vorstellen kann. Und irgendwann antwortete er nicht mehr. Und ich ahnte schon, was das bedeuten kann. Dann vergehen Monate ohne Antwort, und schließlich kriegt man eine Benachrichtigung, dass diese Nummer nicht mehr existiert.
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