Der Kampf um den Wahlkampf: Wie umgehen mit den Attacken auf Politiker?
Bundesweit wurden Politiker, Wahlkämpfer und Ehrenamtliche bedroht und angegriffen. Nun wollen die Innenminister neue Schutzkonzepte. Doch wie viel Sicherheit ist überhaupt möglich?
Der Wahlkampf ist dieses Mal besonders umkämpft.
Kai Gehring klingt am Telefon fest entschlossen: „Ich lasse mich auf keinen Fall einschüchtern, bleibe ansprechbar und bürgernah“, sagt der Grünen-Politiker. Seit Samstag habe er zahlreiche Wahlkampftermine wahrgenommen, darunter auch ein großes Bürgerfest. Eigentlich selbstverständlich für den langjährigen Bundestagsabgeordneten aus Essen, doch in diesen Tagen ist es eine Mutprobe.
Erst am Freitag wurden Gehring und sein Parteifreund Rolf Fliß in Essen auf der Straße freundlich von einer Gruppe angesprochen. Die Männer wollen ein Selfie. Dann kippt die Stimmung. Die beiden Grünen werden plötzlich grundlos beleidigt, dann wird Fliß mehrfach geschlagen. „Das war heimtückisch“, sagt Gehring wenige Tage später. Noch schlimmer sei das, was in Dresden mit SPD-Politiker Matthias Ecke geschehen sei. Es brauche jetzt Konsequenzen, fordert Gehring. „Antidemokrat*innen dürfen nie wieder mit ihren Einschüchterungsversuchen Erfolg haben.“
Die Gewaltwelle gegen Politiker, Wahlhelfer und Ehrenamtliche hat die Politik aufgerüttelt. Am Dienstagabend wollen sich die Innenminister der 16 Bundesländer gemeinsam mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei einem Sondertreffen digital zusammenschalten, um über die Sicherheit des Wahlkampfs zu beraten.
Verrohung und Enthemmung
„Wir dürfen uns aber keiner Illusion hingeben: Gewalt und Hetze in unserer Gesellschaft betreffen nicht nur die Innenpolitik“, sagte Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen vorab. Verrohung und Enthemmung seien ein Problem für die gesamte Gesellschaft, sagte der CDU-Politiker, der aktuell den Vorsitz der Innenministerkonferenz führt.
Doch Stübgen dämpft auch die Erwartungen: „Wer erwartet, dass die Polizei alle Probleme lösen kann, der verkennt die Herausforderungen, vor denen wir stehen.“ Ähnliches teilt Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) auf Anfrage mit: „Aktionismus ist nicht die Lösung!“ Die Täter müssten mit „allen uns zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln“ zur Verantwortung gezogen werden.
Wenn die Polizei Täter ermittelt hat, müssen diese auch die Härte des Rechtsstaats erfahren.
Michael Mertens, stellvertretender Vorsitzender der GdP.
Auch der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Michael Mertens, will realistisch bleiben: „Wir werden nicht jedes Plakat, jeden Stand und jede Veranstaltung in diesem Wahlkampf schützen können“, sagte er dem Tagesspiegel. Trotzdem erwartete Mertens, dass die Polizei nun die Präsenz im öffentlichen Raum verstärken wird. Angesichts der vielen bestehenden Belastungen, wie den Pro-Palästina-Demonstrationen und der nahenden Europameisterschaft, eine Kraftanstrengung.
Neben einer Garantie für den Abbau der Überstunden sei auch die Justiz gefordert. „Wenn die Polizei Täter ermittelt hat, müssen diese auch die Härte des Rechtsstaats erfahren.“ In der Vergangenheit seien Urteile zu mild gewesen. „Es geht hier nicht um einzelne Gewalttaten, sondern auf Angriffe auf unseren Rechtsstaat.“
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Hartmann, wünscht sich ein klares Zeichen von den Innenministern. „Gleiches sehe ich bei einer verbesserten Finanzierung der inneren Sicherheit in Länderhaushalten und im Bundeshaushalt. Keine Kürzungen, sondern Mittelaufwuchs muss das Signal sein“, sagte er dem Tagesspiegel.
Reform des Melderechts
In der Ampel können sich Einzelne auch Gesetzesverschärfungen vorstellen, etwa zum Schutz von Kommunalpolitikern. Konstantin Kuhle, Innenpolitiker und Vize-Fraktionschef der Liberalen im Bundestag, schlägt eine Reform des Melderechts vor, damit Kommunalpolitiker, aber auch bedrohte Aktivisten, Journalisten oder Staatsanwälte ihre Adressen leichter und länger schützen können. „Außerdem braucht es auf kommunaler Ebene Ansprechstellen, damit sich die Vertreter der Kommunalpolitik gegen Hass und Hetze zur Wehr setzen können“, sagte Kuhle dem Tagesspiegel.
Diese Idee unterstützt auch Kai Gehring, der seine Adresse immer wieder sperren lassen muss. Denn nach zwei Jahren läuft die Löschung bislang automatisch aus. „Hier können kleine Spiegelstriche eine große Wirkung haben“, sagt Gehring, der nach dem Angriff aber auch positive Erfahrungen gemacht hat: „Die große Solidarität und Menschlichkeit, die ich seit Freitag erlebt habe, ermutigt und tut gut. Viele Menschen in unserem Land wollen die Verrohung nicht zulassen, sondern wünschen sich Anstand, Respekt und eine faire politische Kultur.“