Der Bundesrat beugt sich dem EGMR: Flüchtlinge sollen Ehepartner und Kinder schneller in die Schweiz nachholen können
Der zuständige Bundesrat Beat Jans bleibt gefordert. ; Cyril Zingaro / Keystone
Was am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden wird, kann direkte Auswirkungen auf die Schweizer Politik haben. Der Bundesrat schlägt vor, die generelle Wartefrist für den Familiennachzug von vorläufig aufgenommenen Personen von drei auf zwei Jahre zu reduzieren. Er hat an seiner Sitzung vom Mittwoch die entsprechende Vernehmlassung eröffnet.
Mit der Lockerung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) beugt sich der Bundesrat den Richtern aus Strassburg. Die grosse Kammer des EGMR ist 2021 in einem Grundsatzurteil gegen Dänemark zu dem Schluss gekommen, dass eine gesetzliche Wartefrist von drei Jahren nicht vereinbar sei mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Gleiche Grundlage wie für die Klimaseniorinnen
Es ist der gleiche Artikel, der dem EGMR erst kürzlich die Begründung für eine Rüge an die Adresse der Schweiz geliefert hat. Diese schütze ihre älteren Bürgerinnen nicht ausreichend vor Hitzewellen. Die Urteile in den beiden völlig unterschiedlichen Sachbereichen zeigen, wie «dynamisch» der EGMR die Konvention in der Zwischenzeit interpretiert.
Im Gegensatz zum Klimaurteil wurde das Verdikt betreffend Familiennachzug indes von einer Schweizer Instanz, in diesem Fall vom Bundesverwaltungsgericht, bereits bestätigt. 2022 hielt es fest, dass das innerstaatliche Recht im Zweifelsfall im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen sei.
Entsprechend müsse das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Anwendung der dreijährigen Wartefrist aufgrund des EGMR-Urteils ändern. Beim ursprünglichen Fall in Dänemark hatten sich die dortigen Behörden geweigert, der Ehefrau eines vorläufig Aufgenommenen die Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.
Der Familiennachzug gilt für die Ehegatten und ledigen Kinder unter 18 Jahren. Die Familie muss in der Schweiz zusammen in einer «bedarfsgerechten Wohnung» wohnen, und sie darf nicht von Sozialhilfe abhängig sein. Mit vorläufig aufgenommenen Personen sind auch vorläufig aufgenommene Flüchtlinge gemeint.
Im Justizdepartement (EJPD) des SP-Bundesrats Beat Jans rechnet man nicht mit einer Zunahme von Gesuchen aufgrund der geplanten Lockerung. In den letzten Jahren hätten durchschnittlich 333 Personen im Jahr ein Gesuch um Familiennachzug gestellt. Rund 126 Personen habe man jeweils aufgenommen.
Insgesamt soll es aber zu keiner Zunahme von Familiennachzügen kommen, im Gegenteil. «Gleichzeitig könnten durch die Fristverkürzung die Integration und die Motivation zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit insgesamt gefördert werden», schreibt das EJPD im Bericht. Der Optimismus des neuen Departementsvorstehers scheint durchzudringen.
Sonderregelung für reisefreudige Ukrainer
Weniger klar sind Jans’ Pläne mit dem Schutzstatus S für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge. Der zuständige Bundesrat denkt zwar über eine Anpassung des Status nach, um die Erwerbsquote der Ukrainer zu erhöhen. In diesem Zusammenhang will Jans eine «rückkehrorientierte Integration» anstreben. Wie genau er das angehen will, liess Jans bis dato offen.
Hier bleiben oder zurück in die Heimat? Die Reisefreiheit der ukrainischen Flüchtlinge bleibt derweil uneingeschränkt. Ukrainer sind im Schengenraum grundsätzlich visumbefreit. Im Gegensatz zu vorläufig Aufgenommenen und anderen Asylsuchenden sollen sie mit dem Schutzstatus S die Schweiz auch weiterhin jederzeit verlassen, im Ausland umherreisen und wieder zurückkehren können.
Der Bundesrat will die Sonderregelung beibehalten. Er hat am Mittwoch dem EJPD den Auftrag erteilt, eine entsprechende Botschaft zu erarbeiten. Dieser Schritt soll aber erst später umgesetzt werden.