Das möbelhafte Schweigen der Dinge: Über eine Wortschöpfung Heimito von Doderers
Heimito von Doderer, geboren am 5. September 1896, gestorben am 23. Dezember 1966, Ende März 1966
Manche Metaphern oder allgemein: Sprachbilder haben eine erhebliche Überzeugungskraft. Große Geschichtstheorien und kleine Langeweile im Immergleichen, beides wird in der Belletristik zum „Rad der Zeit“. Und wie oft ist nicht Hoffnung das „Licht am Ende des Tunnels“? Eine offenbar besonders gelungene Formel fand der österreichische Romancier Heimito von Doderer, als er in seinem grandiosen Roman „Die Strudlhofstiege“ 1951 gezielt mehrfach ein Phänomen, das andere einfach „Stille“ genannt hätten, als aktives „Schweigen“ inszenierte und mit einem treffend ge- oder erfundenen Adjektiv kombinierte. So entstand seine Idee des „möbelhaften Schweigens“.
Doderers polychroner Roman spielt hauptsächlich in den Zwanzigerjahren in Wien und nicht selten in geräumigen Wohnungen des Großbürgertums, dazu bei verschiedenen Zeitebenen standardmäßig im Spätsommer oder Frühherbst. Wer die großzügigen Zimmerfluchten oder Gemächer imaginiert, wie sie während des ausgedehnten Aufenthalts der Bewohnerfamilie in der Sommerfrische leer standen, der hat den Punkt schon erfasst. Man verließ damals die Stadt nicht für ein paar Tage, sondern reiste mit Sack und Pack nach Bad Ischl oder auf den Semmering oder wohin auch immer, aber jedenfalls für viele Wochen oder gar für Monate. Die Wohnung wurde nicht nur verschlossen, bei verhängten Fenstern, sondern man rollte die Teppiche auf und brachte desinfizierenden Kampfer aus, sodass in den unbewohnten Etagen im Sommer auch ein charakteristisches Aroma lag.
Doderer war ein planvoller Schreiber, das beweisen die berühmten Konstruktionsskizzen im Großen und die gezielt wiederholten Formulierungen im Kleinen. Nicht weniger als sechsmal ruft er die Wortkombination ab, die es in sich hat. Streng genommen handelt es sich gar nicht um eine simple Metapher, sondern um eine Enallage, die Vertauschung von Zugehörigkeiten und Wortarten (Handbuchbeispiel ist Otto Ludwigs Wendung „Das braune Lachen ihrer Augen“). Das erkennt der Rhetoriker schon zu Anfang des Buches, wo vom „möbelhaften polierten Schweigen“ die Rede ist, sodass man gleich auch die Oberfläche und den Geruch der Politur assoziiert und sich beim Lesen übersetzt, dass die Stille in einem Raum mit polierten Möbeln gemeint ist, nur eben so verstanden, als ob die Dinge gleichsam bewusst schwiegen. Womit Doderer auch seine – sarkastisch-verspielte, von der „Tücke des Objekts“ besessene – Theorie vom zuweilen boshaften Eigenleben der Dingwelt mitdenkt. Die Möbel sind für ihn nicht totes Holz, sondern nicht redende Beobachter.
Das Sprachbild bildet eine Stimmungsgrundierung
Daher addiert er zu der Metapher des „möbelhaften Schweigens“ gleich zweimal die Formel von der „Vielwissenheit der stummen Dinge“. Diese Dinge sind immer anwesend, die Menschen aber nur zeitweise und auch in ihrer eigenen Wohnung nur als Besucher. Nimmt man die Idee des noch ungeschäftigen Spätsommers hinzu, der letzten August- und der ersten Septembertage in der Stadt, dann ist es plausibel, etwa von der Straße aus ein „kleines tief in sein inneres möbelhaftes Schweigen versunkenes Palais“ zu betrachten, dessen menschenleeres Innere man sich nur vorstellen kann. So bereitet das Sprachbild eine Stimmungsgrundierung, zu der sich je weitere obstinate Motive oder Gedanken gesellen: von der beinahe stehenden Zeit, von der Übergängigkeit zwischen Sommer und Herbst und von der Immergleichheit der Jahre im Zeichen dieser durchwärmten Saison.
Und natürlich arbeitet der Autor kompositorisch mit dem selbst geschaffenen Material weiter. Da gehen einmal zwei junge Damen in einer solchen sonst sommerstillen Wohnung durch einen Salon, von dem es dann heißt, dass er „hinter dicht geschlossenen grünen Jalousien und mit eingehüllten Fauteuils im leichten Kampferduft versunken lag, nur das Klavier spiegelte frei, tief abgestürzt in das Innere seines schwarzglänzenden möbelhaften Schweigens“, und siehe da: Mühelos fügt sich auch das schwarze Piano adjektivisch in das Tableau, während der Lackglanz zum verbalen „Spiegeln“ moduliert. Wir verstehen, wie es funktioniert, und verfallen den sich wiederholenden Komponenten.
Im fortgeschrittenen Roman wird dann schließlich mit dem schon vertrauten Material jene Idee aktiviert, die im Grunde schon immer anwesend war – die der Zeit: „Aber die vergehende Zeit brach sehr sichtbarlich minutenweise in die unveränderten sonnenlosen Zimmer […] vorne hinein, geräuschloser als die Uhren, so lautlos fast wie es ein Sonnenbalken vermocht hätte, der zwischen einem tief in sein spiegelndes möbelhaftes Schweigen abgestürzten Klavier und dem polierten Notenständer wandert.“ In und an der Stille, in und an den unbelebten Räumen, am Interieur, am Licht, am Geruch auch, wird man lesend etwas Unsichtbares gewahr: die Zeit, die zwischen scheinbarem Stillstehen und unmerklichem Doch-Vergehen zögernd schwebt.
Die Stille, die ihn zum Schreiben inspirierte
Dass das Sprachbild vom „möbelhaften Schweigen“ der Dinge intensiv zu wirken scheint, bemerkte ich erst spät, als gleichsam statistischen Effekt, denn ich halte ab und zu eine Vorlesung über Zeit und Erinnerung im modernen Roman, worin es auch um Doderer geht, aber zuvor schon um Virginia Woolf, deren Bücher sich fast immer um das Phänomen Zeit drehen. Eines ihrer bekanntesten Bravourstücke ist der Mittelteil von „To the Lighthouse“ (1927), worin sie unter der Überschrift „Time passes“ beschreibt, wie ein Ferienhaus auf der Hebrideninsel Skye, das vor und nach dem Ersten Weltkrieg aufgesucht wird, zwischenzeitlich über zehn Jahre daliegt, von den Besitzern unbewohnt, und wie sich das Vergehen der Zeit nur an dem fast unhörbaren Vorhandensein einiger Insekten und dem ungehörten Knarren der Holzdielen merken ließe, wenn denn jemand zugegen wäre. Die Zeit, gleichsam im „Reinzustand“, um eine Formulierung Marcel Prousts zu bemühen, zeigt sich also am „möbelhaften Schweigen“ der Dinge, so hätte es Doderer genannt.
Diesen Zusammenhang muss ich spontan hergestellt haben, als ich erstmals die genannte Vorlesung hielt, als Illustration zu Virginia Woolf wohlgemerkt, und ich erinnere auch heute gelegentlich daran. Seitdem aber lese ich in mindestens jeder zweiten Klausur zum Thema alles Mögliche, Richtiges und weniger Richtiges, aber verlässlich immer wieder den Verweis darauf, dass nichts so gut Virginia Woolfs berühmtes Kapitel erkläre wie die zu Unrecht weniger berühmte Metapher Heimito von Doderers, die ihre subtile Überzeugungsmacht sozusagen im Abstimmungsmodus beweist. Vielleicht beschrieb Doderer in seinem Sprachbild auch die Stille, die ihn zum Schreiben inspirierte, vielleicht macht im ehrwürdigen Hauptgebäude der Wiener Universität das klausurhafte Schweigen eines schon oder noch sommerlichen Hörsaales die vergehende Zeit bewusst.
Achim Hölter lehrt Literaturwissenschaft in Wien.