Auf Kollisionskurs: China forciert Industrieausfuhren, Europa fürchtet um seine wirtschaftliche Sicherheit
Bei Solarmodulen ist Europa gegenüber China ins Hintertreffen geraten, bei anderen Produkten soll das nicht passieren. Hu Xiaofei / ;VCG / Getty
Als Chinas Ministerpräsident Li Qiang am vergangenen Sonntag überraschend die Beijing Auto Show besuchte, nahm er sich die Pavillons der chinesischen E-Auto-Hersteller vor, einen nach dem anderen. Als hätte er eine Mission, forderte Li die Unternehmen auf, die Modernisierung weiter voranzutreiben. «Durch permanente Innovation müssen die Hersteller unseres Landes eine moderne Industrie schaffen», sagte Chinas Regierungschef.
Lis Besuch der weltgrössten Automesse unterstreicht, wie sich Chinas Machthaber das Wachstumsmodell der Zukunft vorstellen: Anstatt Spekulation mit Wohnungen und ständig neue Investitionen in die Infrastruktur, die zu einem grossen Teil keine Erträge abwerfen, wollen sie eine moderne Industrie. Diese soll die Wirtschaft auf eine gesündere Basis stellen.
Sinkende Auslastung von Chinas Industrie
Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat der Strategie den etwas sperrigen Namen der «neuen qualitativen Produktivkräfte» gegeben. Unternehmen in Bereichen wie Maschinenbau, Robotik oder Automatisierung sowie Medizintechnik- und Pharmafirmen und natürlich Anbieter von grünen Technologien wie Windkraftanlagen und Solartechnik sollen fortan den Ton angeben.
Xi schwebt eine Wirtschaft mit einer breiten industriellen Basis vor, ähnlich wie jene der Schweiz und Deutschlands. Natürlich möchte China so auch unabhängiger vom Ausland werden.
Dazu kommt, dass ein Ende der Krise im Immobiliensektor, der einst rund einen Viertel zur chinesischen Wirtschaftsleistung beitrug, nicht in Sicht ist. Um das Wachstum anzukurbeln, pumpen die Behörden deshalb jetzt gewaltige Ressourcen in den Ausbau der Industrie.
Die Investitionen der Industrie, vor allem jene der Staatsunternehmen, legten im ersten Quartal im Vergleich mit dem Vorjahreszeitraum denn auch um fast 10 Prozent zu; die Industrieproduktion stieg zwischen Januar und Februar um 7 Prozent. «Abteilungen auf lokaler Ebene» hätten jüngst grosse Anstrengungen unternommen, um für Dynamik zu sorgen, sagte Sheng Laiyun, der stellvertretende Direktor des nationalen Statistikamtes in Peking, als er die Wirtschaftszahlen des ersten Quartals präsentierte.
Die Anstrengungen zeigen Wirkung. In Chinas Industrie sind riesige Kapazitäten entstanden, die zu einem grossen Teil gar nicht benötigt werden, um den heimischen Markt zu bedienen. Das ist auch auf die lahmende chinesische Konjunktur zurückzuführen. Daher sank die Auslastung der Industrie im ersten Quartal des laufenden Jahres im Vergleich mit dem Vorquartal von 75,9 Prozent auf 73,6 Prozent.
In der E-Auto-Industrie beträgt die Auslastung nach Berechnungen der Analytiker der UBS 74 Prozent. Fabriken für Siliziumscheiben, die unter anderem für Solarmodule benötigt werden, waren 2022 nur zu 57 Prozent ausgelastet, drei Jahre zuvor hatte dieser Wert noch 78 Prozent betragen.
Besonders gravierend ist die Kluft zwischen der heimischen Nachfrage und den vorhandenen Kapazitäten bei der Produktion von Batterien für Elektroautos. Die Rhodium Group aus New York hat berechnet, dass China im Jahr 2022 fast doppelt so viele Lithiumionenbatterien gefertigt hat, wie im Land installiert waren.
Der Ukraine-Krieg hat die EU aufgeschreckt
Mit dieser forschen Industriepolitik ist China auf Kollisionskurs mit der EU geraten. Der Krieg in der Ukraine hat die Kommission und die Mitgliedsländer aufgeschreckt. Im Frühjahr 2022 war der Gaspreis wegen des Konflikts in die Höhe geschossen, Europas Industrie geriet unter Druck. Den Politikern wurde bewusst, wie sehr Europas Wirtschaft vom russischen Gas abhängig geworden war.
Das war ein Weckruf. Auch gegenüber China, dem zweitwichtigsten Handelspartner, sei die EU viel zu abhängig, lautet seither die Ansicht der Kommission. «Weniger als 3 Prozent der Solarmodule, die in der EU installiert werden, stammen aus Europa», sagt Margrethe Vestager, die Kommissarin für Wettbewerb. China forciere eine angebotsseitige Wirtschaftspolitik, um den Abschwung zu bekämpfen. «Das bedroht unsere Wettbewerbsfähigkeit und gefährdet unsere wirtschaftliche Sicherheit.»
Die EU verdächtigt China, die Industrie stark zu subventionieren. Am meisten Hilfe erhalten dabei laut der Kommission ausgerechnet jene Sektoren, die auch sie als strategisch einstuft: Halbleiter, Wind- und Solarkraft, E-Autos sowie Umwelttechnik.
Bei der Solartechnik sind die europäischen Unternehmen schon vor Jahren ins Hintertreffen geraten. Laut Vestager kann es sich die EU nicht leisten, dass sich die Geschichte bei weiteren Produkten wiederholt.
Razzien bei chinesischen Firmen
Lange Zeit haben die Kommission und Europas Politiker diesen angeblichen Missstand bloss klagend hingenommen. Im April hat die EU ihre Gangart aber verschärft. So liess sie in den polnischen und niederländischen Büros des Scanner-Herstellers Nuctech Razzien durchführen, weil sie diesen verdächtigt, von Staatshilfe zu profitieren.
Untersuchungen leitete sie auch gegen zwei chinesische Photovoltaikfirmen ein, die einen rumänischen Solarpark beliefern wollen. Auch hier vermutet die Kommission, dass die Firmen Subventionen erhalten hätten.
Schliesslich hegt die EU den Verdacht, dass China europäische Firmen vom heimischen Beschaffungsmarkt für Medizinprodukte ausschliesst. Auch dazu hat die EU eine Untersuchung initiiert. Erhärtet sich der Verdacht, müssen sich Chinas Firmen in der EU auf Gegenmassnahmen gefasst machen.
Das grösste Konfliktpotenzial birgt allerdings eine Untersuchung, welche die EU im vergangenen Oktober in die Wege geleitet hat. Sie will herausfinden, ob Chinas E-Auto-Hersteller so hohe Subventionen erhalten, dass der Markt dadurch verzerrt wird.
Tatsächlich fördert China die E-Auto-Hersteller kräftig, genauso wie Firmen anderer Greentech-Branchen. Das Muster ist fast immer dasselbe. Die Zentralregierung gibt die Parole aus, dass das Land eine moderne Industrie aufbauen solle, etwa für E-Autos. Die Provinz- und Stadtregierungen überschlagen sich, um den Vorstellungen aus Peking nachzukommen, und überschütten die Gründer an Ort mit Finanzhilfen. Jeder Lokalfürst möchte in Peking gut dastehen.
Das führt rasch zu Verschwendung. Von den einst 400 E-Auto-Herstellern sind weniger als 100 übrig geblieben. Experten erwarten, dass sich der Markt in den kommenden Jahren weiter bereinigen werde.
Europas Autoindustrie ist uneins
So lange will die EU nicht warten. Man sei für Wettbewerb, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor kurzem in Karlsruhe: «Wofür wir aber nicht sind, ist, dass China den Markt mit subventionierten Autos flutet.»
Gespannt wartet Europas Industrie nun darauf, ob die EU die chinesischen Autohersteller oder Zulieferer mit Strafzöllen oder Quoten belegen wird.
Das harte Vorgehen der Kommission spaltet allerdings Europas Autoindustrie. «Viele unserer Mitglieder produzieren in China», sagt die Vertreterin eines europäischen Branchenverbandes. Sie wären von höheren Zöllen ebenfalls betroffen. Zudem besteht die Gefahr, dass China Gegenmassnahmen ergreift.
In Brüssel heisst es, vor allem Frankreich setze sich für ein hartes Vorgehen gegen China ein. Anders als Deutschland exportiert das Land nicht viele Fahrzeuge in das Reich der Mitte. Gleichzeitig wolle Frankreichs Regierung den eigenen Markt schützen, sagen Beobachter.
Die Kommissionspräsidentin von der Leyen hat jüngst ihre Wortwahl gegenüber China verschärft. Den Grund dafür sehen manche in den Wahlen zum EU-Parlament von Anfang Juni und in der folgenden Ausmarchung, wer das Kommissionspräsidium übernehmen wird. Von der Leyen suche die Unterstützung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der eine aktive Industriepolitik befürworte, heisst es.
Europa soll in die Infrastruktur investieren
Gewisse Ökonomen halten von solch einem Vorhaben allerdings nichts. Ihr Rezept gegen Chinas Subventionshilfen ist nicht eine forcierte Industriepolitik. Stattdessen fordern sie bessere Rahmenbedingungen. «Die Probleme im E-Auto-Markt haben viel mit uns zu tun», sagt Michael Hüther, Direktor am Institut der deutschen Wirtschaft.
Gerade im Automarkt herrsche eine hausgemachte Verunsicherung: Die E-Autos seien zu teuer, es fehlten die Ladestationen, und die Stromnetze seien nicht darauf angelegt, Batterien über die Nacht schnell zu laden. Europa müsse mehr in die Infrastruktur investieren und weniger in die Landwirtschaft, sagt Hüther.
Louise Loo, Ökonomin bei Oxford Economics, gibt den China-Kritikern aus Europa dagegen teilweise recht. Es gebe «Belege, wenn auch noch nicht überwältigende, die das geopolitische Narrativ der Überkapazitäten stützen, wonach China mit unfairen Methoden Konkurrenten im Ausland bei den Preisen unterbietet», schreibt Loo in einer Untersuchung.
In Brüssel fragen sich derweil Politiker gespannt, ob der Entscheid, Chinas Autosektor mit Zöllen oder Quoten zu bestrafen, noch vor den Wahlen zum EU-Parlament fallen werde. «Zölle könnten eine Sanktionsspirale in Gang setzen», befürchtet die Chefin eines bedeutenden Branchenverbandes.