Asyl für Afghaninnen: Bürgerliche Richter korrigieren den Kurs
Das Bundesverwaltungsgericht geht nicht von einer Kollektivverfolgung von Frauen in Afghanistan aus. Im Bild: Frauen stehen in Kabul für Lebensmittelrationen an. Ebrahim Noroozi / AP
Im letzten Sommer beschloss das Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Praxisänderung, die es in sich hat. Es hielt fest, dass afghanische Frauen fortan in der Schweiz Asyl erhalten und als Flüchtlinge anzuerkennen sind, auch dann, wenn sie keine individuellen Fluchtgründe glaubhaft machen können. Schon vorher wurden die Afghaninnen vorläufig aufgenommen und nicht aus der Schweiz weggeschickt. Mit dem Flüchtlingsstatus haben sie aber unter anderem das Recht, auch ihre Familienmitglieder in die Schweiz zu holen, die dann ebenfalls Asyl erhalten.
In den bürgerlichen Reihen war man über die still und leise eingeführte Praxisänderung des SEM nicht erfreut und wollte sie mit parlamentarischen Vorstössen rückgängig machen. In der Dezembersession standen die entsprechenden Motionen von Gregor Rutz (SVP) und Philippe Bauer (FDP) im National- und Ständerat auf dem Programm. Doch diskutiert wurden sie nicht. Denn just vor der Parlamentsdebatte veröffentlichte das Bundesverwaltungsgericht einen Entscheid, der die Praxisänderung stützte.
Parlamentsdebatte unter anderen Vorzeichen
Dass das Urteil so punktgenau publiziert wurde, dürfte kein Zufall gewesen sein. Der Entscheid zeigte denn auch Wirkung: Beide Räte bliesen die Debatte zum Asylrecht von Afghaninnen ab. Man müsse die Sache nun nochmals prüfen, hiess es. In der Zwischenzeit hat die vorberatende Nationalratskommission dies getan: Sie lehnt die Motion Rutz knapp mit 13 zu 12 Stimmen ab.
Der Vorstoss dürfte in der Juni-Session im Nationalrat behandelt werden. Dieses Mal aber sind die Vorzeichen andere. Denn nun liegt ein neues Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vor, das mit einer ganz anderen Tonalität daherkommt und in eine andere Richtung weist als jenes vom letzten Winter.
Konkret ging es um den Fall einer afghanischen Frau, die mit dem Ehemann und den Kindern 2015 aus Afghanistan geflüchtet war und nach einer Reise über Iran, die Türkei, Griechenland, Serbien und Frankreich in der Schweiz landete. 2020 verneinte das SEM die Flüchtlingseigenschaft und lehnte die Asylgesuche wegen zahlreicher widersprüchlicher Aussagen ab. Die Familie konnte in der Schweiz bleiben, weil die Wegweisung als unzumutbar angesehen wurde. Im Herbst 2023 reichte die Frau eine neue Eingabe ein und berief sich auf die Praxisänderung des SEM.
Das Bundesverwaltungsgericht, das geht aus dem vor wenigen Tagen publizierten Entscheid hervor, lehnt die Eingabe ab. Es nimmt diesen Fall überdies zum Anlass, um die Haltung des Gerichts in Sachen Afghaninnen zu präzisieren. Man kann auch sagen: zu korrigieren.
Zwangsheirat oder Ehrenmord
Das Gericht gehe nicht von einer Kollektivverfolgung von Frauen in Afghanistan aus, heisst es im Urteil. Grundsätzliche Schwierigkeiten oder Diskriminierungen, denen Frauen in patriarchalischen Gesellschaften ausgesetzt seien, stellten für sich allein keine Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes dar. Die Verfolgung müsse einen gewissen Grad an Intensität aufweisen, dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn eine Frau mit einer Zwangsheirat rechnen müsse oder von Ehrenmord bedroht sei und nicht denselben staatlichen Schutz erhalte wie ein Mann. Die Beschwerdeführerin sei eine verheiratete Frau und deshalb nicht dem Risiko einer Zwangsheirat ausgesetzt.
Weiter heisst es: Die Aussage des SEM, wonach weiblichen Asylsuchenden aus Afghanistan «die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen» sei, könne nicht so verstanden werden, dass die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht genüge. Es brauche jeweils ein weiteres, zusätzliches individuelles Verfolgungsmotiv.
Im früheren Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, dessen Erläuterungen über weite Strecken einem Bericht von Amnesty International oder einer Flüchtlingsorganisation hätten entnommen sein können, wurde noch anders argumentiert. Jeder Frau, die Afghanistan verlässt, wurde ein unerträglicher psychischer Druck attestiert, der ein menschenwürdiges Leben nicht mehr möglich erscheinen lasse. Deshalb sei jede als Flüchtling anzusehen, ungeachtet ihrer persönlichen Situation.
Bürgerliches Richtertrio
Die Kehrtwende am St. Galler Gericht kommt nicht völlig überraschend. Das brisante Urteil vom letzten Winter hatte innerhalb des Gerichts für einigen Zündstoff gesorgt. Ein derart weitgehender Entscheid hätte koordiniert und innerhalb der Asylabteilungen abgesprochen werden müssen, wurde intern kritisiert. Tatsächlich wurde das Urteil lediglich von drei Richtern gefällt; den Vorsitz hatte eine grüne Richterin inne, die früher im Flüchtlingsbereich gearbeitet hatte.
Es war deshalb nur eine Frage der Zeit, bis sich innerhalb des Gerichts eine Gegenbewegung formieren würde, die anlässlich einer hängigen Beschwerde einer Afghanin eine Kurskorrektur durchsetzen würde. Das ist nun geschehen: Das neue Afghaninnen-Urteil wurde von zwei SVP-Richtern und einem Freisinnigen gefällt. Man wird sehen, ob damit das letzte Wort gesprochen ist.