300 Jahre Kant: Rassismusvorwürfe, Universalismuskritik und Russifizierung

300 jahre kant: rassismusvorwürfe, universalismuskritik und russifizierung

Ostpreußen hat er nie verlassen: der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804)

Er lieferte die Letztbegründung aufklärerischen Denkens, brach mit der tradierten Metaphysik und erhob das Selbstdenken zum Eigentlichen der Menschennatur: Immanuel Kant, geboren am 22. April 1724 im preußischen Königsberg, gestorben dortselbst im 80. Lebensjahr und um 1780 Urheber einer „Revolution der Denkart“ – der sogenannten kopernikanischen Wende der europäischen Philosophie.

Kants zentraler Beitrag zur Philosophiegeschichte liegt in der Reduktion. Aus der unendlichen Menge möglicher Aussagen will er solche herausfiltern, die für unser Erkennen, Urteilen und Handeln bindend und zwingend sind. Entsprechend stehen vier Fragen über dem Tor zu seinem Lebenswerk: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“

Seine Methode liegt in der Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um sinnvoll von etwas zu sagen: Ich weiß davon. Wobei es keine Rolle spielt, ob „etwas“ ein Gegenstand ist oder eine Idee, eine moralische Qualität oder eine ästhetische. Jede Erkenntnis, die objektivierbar sein oder einen Wahrheitsanspruch beinhalten will, muss sich dieser Frage stellen: Was sind die Bedingungen, unter denen sie möglich ist?

Zu dieser von Kant kritisch genannten Methode gehört eine Weltanschauung. Ihr zufolge existiert ein vom Betrachter unabhängiges Sein – es gibt also eine Welt unabhängig von unserer Anschauung. Allerdings erfahren wir davon nur vermittelt durch die vier raumzeitlichen Dimensionen und die Eindrücke unserer fünf Sinne. Aus ihnen formt sich die menschliche Weltwahrnehmung; was darüber hinausgeht, bleibt der Erkenntnis verschlossen.

Kant stellt nicht in Abrede, dass es „dort“, jenseits der Sinneserfahrung, „etwas“ gibt oder doch geben kann. Er nennt es „Ding an sich“ – jenseits möglicher Erkenntnis, vor allem jenseits möglichen Wissens darüber. Wir können nach Herzenslust diskutieren und spekulieren, über Gott und Götter, übersinnliche Erfahrung, Eingebung und Intuition. Aber: Geht es nach dem großen Philosophen, mangelt es an den Bedingungen der Möglichkeit, verstandesgemäß Sinnvolles davon zu wissen.

Seine Hauptwerke, die Kritiken jeweils der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft, binden Wissen, Handeln und Urteilen unter ein strenges Regime. An ihm und aus ihm entwickelt der Philosoph seinen Begriff von Menschenwürde und Menschheit als höchster Instanz: zwingende Autorität für Souverän und Untertan zugleich.

Darin liegt auch der Unterschied zwischen Kants Kategorischem Imperativ – „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ – und der Verhaltensregel „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Im Kategorischen Imperativ ist der Einzelne zugleich Gesetzgeber und dem Gesetz unterworfen. Die Intention des Philosophen ist unverkennbar. In moralischer Hinsicht ist die vermeintliche Reduktion in Wirklichkeit eine Beweisführung: Letztlich braucht es weder einen Gott noch einen Souverän. Unsere Vernunftnatur an sich bildet die Bedingung der Möglichkeit eines Lebens in Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit.

Nun stoßen sich schon seit dem 18. Jahrhundert auch Philosophen an Kants apodiktischer Unbedingtheit. Kann es wirklich nichts Wissbares geben, das sich anders herleitet als aus raumzeitlicher Sinneserfahrung? Kants Zeitgenosse, der Sprach- und Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder, der 1799 eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft vorlegte, wies auf die stillschweigenden Voraussetzungen hin, die Kants Werk begleiten – sei es der subjektive Vorrang der Rationalität vor anderen Formen der Welterfassung, seien es kulturell-linguistische Konditionierungen.

Auch Kants angeblicher Rassismus, eine zentrale Kritik unserer woken Gegenwart, wurde schon früh thematisiert. Für Herder, einen Verehrer partikularer Vielfalt, war die Vorstellung einer Schubladisierung nach biologischen Rassen absurd. Kant hingegen war Universalist. Wenn aber die Menschen „an sich“ gleich sind, suchen offensichtliche Unterschiede nach Erklärungen. In der europäischen Wahrnehmung des 18. Jahrhunderts war es die Unvernunft der „Wilden“, die zu deren Rückstand gegenüber der „zivilisierten Welt“ führen musste – ein Manko, das laut Kant durch Bildung zu beheben war.

Im westlich-individualistischen Liberalismus unserer Tage lebt die Haltung fort: die Überzeugung, einem historischen Fortschritt zu dienen, dem auch die übrige Menschheit, wenn sie erst Demokratie und Selbstdenken gelernt hat, als ihrer eigentlichen Natur gemäß entgegenstreben wird.

300 jahre kant: rassismusvorwürfe, universalismuskritik und russifizierung

Festbeleuchtung vor dem Jubiläum: Immanuel Kants 1923/24 errichtetes Grabmal am Königsberger Dom überstand den Krieg ohne nennenswerte Zerstörungen.

Folgerichtig wird der Königsberger Philosoph zur Zielscheibe postkolonialer Kritik. Es geht dabei um mehr als Oberflächliches. In „Unter Bleichgesichtern. Kants Kritik der kolonialen Vernunft“ fragte der Regensburger Philosoph Karlfriedrich Herb 2018: „Sind Kants Ideen zur Rasse tatsächlich lediglich Fußnoten im Gesamtwerk, theoretische Fehltritte am Rande, die Kant im Laufe der Zeit im Kontext seiner Moralphilosophie korrigieren wird?“ Oder, die Alternative, stehen seine „rassetheoretischen Stereotype“ symptomatisch für „jene unheilige Allianz von philosophischer Aufklärung und europäischem Kolonialismus“? In dem Fall, so argumentiert Herb, wäre Kants Rassismus „ein Paradebeispiel für die Antinomien der Aufklärung“.

Der Begriff Antinomie – zwei jeweils begründete Aussagen in logischem Gegensatz – ist für Kant von zentraler Bedeutung. Das liegt, grob vereinfacht, an seiner Sehnsucht nach voraussetzungsloser Erkenntnis – an irgendeinem Punkt stößt die ewig grabende Suche auf Paradoxa, wie sie etwa in der Kosmologie den Urknall umgeben. Bei den Antinomien der Aufklärung geht es um Profaneres. Ein Beispiel: die Ausbeutung schwarzer Sklaven durch französische Zuckerbarone in der Karibik bei gleichzeitiger Herausbildung der revolutionären Ideale Liberté, Égalité und Fraternité in den Kreisen der französischen Bourgeoisie.

Kants Kulturalismus ist auch an anderer Stelle angreifbar. Mit der Rationalität macht er ein dezidiert europäisches Verständnis von vernünftigem Denken zur Bedingung gültigen Wissens. Dagegen haben die offenbarten Wahrheiten der Buchreligionen ebenso wenig eine Chance wie die Visionen der Sufis und Schamanen, die meditative Weisheit des Buddha oder die Gesichte der Yogi. Ihre Abwertung sichert dem dreifältigen Ethos des europäischen Menschen – Technik, Arbeit und Vernunft – den Spitzenplatz.

Außerdem sichert sie ihm Macht. Denn Macht besitzt, wer das europäische Wissen beherrscht – Macht über Esse und Schmiede, über Produktionsmittel, über Zeit und Raum. Und über Menschen. Wer es obendrein vermag, diese Macht mit einem überzeugenden Werte- und Begriffssystem zu untermauern, wird als König im Reich des Geistes gekrönt. Beschreibt das den Philosophen aus Königsberg?

Dass Kant auch heute noch Diskussionen befeuert, unterstreicht die Relevanz seines Werkes. Im 21. Jahrhundert, da das Schiff der europäischen Aufklärung ins Schwanken gerät, ist der Philosoph zum Symbol geworden. Den einen gilt er als Inbegriff einer ewig gültigen Vernunfts- und Wissenslehre, den anderen als philosophischer Trommler für die Geltungsansprüche weißer, liberaler Europäer. Was ihn einholt, sind nicht etwaige Mängel seines kritischen Werks, sondern dessen vermeintliche Bedeutung bei der Legitimierung europäischer Macht und Herrschaft. Schuld sind die besagten Antinomien der Aufklärung: all die Vorwürfe des zweifachen Maßes, der Doppelmoral und der Verlogenheit, die Europa seit der Gleichzeitigkeit von Sklaverei und philosophischer Selbstbefreiung begleiten.

Im Zentrum die eine, immer wiederkehrende Frage: Steckt in der behaupteten universellen Geltung aufklärerischer Werte eine Wahrheit oder ein verkleideter Dominanzanspruch? Der Streit darüber ist lebendiger denn je. 2022 hat der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm eine Apologetik des Universalismus gegen die alles zersetzende Identitätsphilosophie vorgelegt. Umgekehrt dissektieren postkoloniale Identitätsphilosophen den Universalismus als Rechtfertigung der Missetaten toter, weißer Männer.

300 jahre kant: rassismusvorwürfe, universalismuskritik und russifizierung

Das zerstörte Königsberger Stadtzentrum, die Insel Kneiphof, wurde in einen Park umgewandelt. Sie heißt heute Kant-Insel. Im Hintergrund der wieder aufgebaute Dom.

Selbst die Politik macht sich an Kant zu schaffen. Etwa in Russland, wo man sich zunehmend im Krieg mit westlich geprägten Wert- und Ordnungsvorstellungen sieht. Dem russischen Narrativ zufolge ist die Integration der Ukraine in den westlichen Orbit weniger das Resultat ukrainischer Willensbildung als Ausdruck imperialer Gier – was dazu führt, dass die bei uns verbreitete Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, in Russland für hohen Blutdruck sorgt.

In seiner Heimatstadt gilt Kant inzwischen als Kriegsbeute. Schließlich gehört Königsberg vulgo Kaliningrad seit fast 80 Jahren wieder zu Russland – „wieder“, weil Ostpreußen im Siebenjährigen Krieg schon einmal fünf Jahre lang, von 1757 bis 1762 und damit zu Kants Lebzeiten, russisch war. Was übrigens nach allen verfügbaren Quellen kein Jammertal erzeugte – die Zeitzeugen berichten von freieren Sitten und weniger protestantischem Muckertum als in den Jahren davor und danach.

„Kant ist unsere russische Trophäe, wie alles, was man im Kaliningrader Gebiet sieht“, rief der junge Gouverneur Anton Alichanow zur Eröffnung der großen Kant-300-Konferenz am 22. April. Jetzt komme es darauf an, den deutschen Philosophen „russisch zu interpretieren“. Ebenfalls interessant war eine Bemerkung Alichanows aus dem Februar: Kant habe einen „fast direkten Bezug zu dem globalen Chaos, der globalen Neuordnung, die wir jetzt erleben. Mehr noch, er hat einen direkten Bezug zum militärischen Konflikt in der Ukraine“.

Die Stoßrichtung ist eindeutig: Russland sieht Kant als den großen Legitimator westlicher Politik – entsprechend hart wird er angegangen. Mit Kants philosophischem Werk hat das nichts mehr zu tun, wohl aber mit der erwähnten symbolischen Bedeutung. Gerade weil Kants intellektuelle Autorität so übermächtig ist (ähnlich wie die Militär- und Wirtschaftsmacht des Westens), provoziert er den Widerstand der sich hintangesetzt Fühlenden.

In Kaliningrad meint man es jedenfalls ernst damit, Kant zu russifizieren. Die Jubiläumskonferenz „Zum ewigen Frieden“ mit mehr als hundert deutschen Teilnehmern wurde kurz vor dem 22. April abgesagt – angeblich wegen befürchteter Provokationen ausländischer Geheimdienste. Der eigens gemietete Bus durfte nicht nach Russland einreisen. Abgesagt wurde auch die Deutsch-Simultanübersetzung bei der Kant-300-Konferenz der Kaliningrader Universität. Ein weiteres Einreiseverbot gilt seit Juli 2022 für den Vorsitzenden des Berliner Vereins „Freunde Kants und Königsbergs“, Gerfried Horst. Eine Erklärung hat er selbst nicht – mit der Stellungnahme des Vereins gegen den russischen Krieg in der Ukraine habe es nichts zu tun, meint er. Bis 2057 darf Horst die russische Grenze nicht überschreiten.

Überlebt hat immerhin die Tradition des Bohnenmahls an Kants Geburtstag – seit 1814 bestimmt eine im Dessert versteckte silberne Bohne den Festredner für das Folgejahr. Zum 200. Wiegenfest 1924 kamen noch 300 Gäste in die Königsberger Stadthalle; hundert Jahre später in Kaliningrad trafen sich rund 30 russische Kant-Aficionados im privaten Kreis. Die Aufklärung scheint so ergraut wie das zusammenschmelzende Fähnlein derer, die noch an sie erinnern.

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