Zeugin der Anmut: Renate Blume wird 80
Grazie schließt Kraft nicht aus: Renate Blume weiß, was sie von der Kamera verlangen darf.
Die schwersten Rollen im großen Drama sind einerseits tragend und zentral, andererseits verflucht passiv. In würdiger Zeugenschaft stehen sie auf der Bühne oder vor der Kamera und bekräftigen durch ihre Anwesenheit, dass Bedeutendes geschieht. In Christian Steinkes DDR-Fernsehproduktion „Kippenberg“ (1981) nach Dieter Nolls gleichnamigem, im Jahr 1979 erschienenen Roman schmeißt Renate Blume als Chemikerin Charlotte gleich in ihrer ersten Szene das Handtuch, um fortan vor allem durch Blicke zu wirken, ruft aber gerade noch, entnervt: „Mein Gott, ihr in eurem Neubau glaubt doch tatsächlich, ihr hättet den Fortschritt der Wissenschaft für euch allein gepachtet.“
Der Ausbruch hallt nach: „hätteten“ für „hättet den“, eine schnelle Schussfolge, und die Winzigpause vor „Fortschritt“. Was zum Nachdenken, Leute. Im Rest des Films muss sie ertragen, dass ihr Mann, die Titelfigur, attraktiv unausgeschlafen dargestellt von Peter Aust, sie mit einer Jüngeren betrügt, dabei aber den Menschen von Format in sich wiederfindet, den die Chemikerin, Tochter aus gutem Hause, ursprünglich geheiratet zu haben geglaubt hatte. Am Ende erteilt Blume seiner Mühe einen zweideutigen Segen: „Hab’ ich nicht immer auf etwas gehofft, das ich nicht unverändert überstehe?“
Es war nicht irgendein Buch, das hier zur knapp dreistündigen Übung in Liebe, Arbeit und Wissen gerafft wurde, sondern derjenige literarische Text, der klarer als fast jeder andere je in der DDR publizierte eine Existenzfrage des Sozialismus untersuchte, nämlich die Instabilität des sozialen Dreiecks zwischen Autorität (Staat? Partei?), Produktivität (Wer befriedigt welche Bedürfnisse wie?) und Souveränität (Wer darf was und wer nicht?). Nolls Einfall, daraus ein Liebesdreieck zu machen (Charlotte als Autorität qua Herkunft, Schönheit und Anstand, Kippenberg als Produktivitätsgarant per Forschung und die jüngere Frau als ungestüme Souveränität, die sich einfach herausnimmt, was sie will), ist unglaublich platt – und eben deshalb genial, nämlich sowohl romantauglich (Da kann man viel erklären!) wie filminspirierend (Da kann man viel zeigen!).
Sie öffnet alle Augen
Noch kraftvoller im selben effektiv stumpfen Stil ist nur noch Christa Wolfs Ansatz, die Fremdheit zwischen den zwei deutschen Republiken als persönliche Trennungsgeschichte aufzuziehen. Mit der Ausgestaltung dieses Ansatzes in Filmform war Renate Blume siebzehn Jahre vor „Kippenberg“ berühmt geworden, in Konrad Wolfs Kino-Umsetzung der ein Jahr früher erschienenen Erzählung „Der geteilte Himmel“ nämlich. Der Film gehört zu den handwerklich kühnsten der DDR-Geschichte – schon während der Vorspann schriftlich darüber informiert, wer die Musik, die Kostüme und die Bauausführung verantwortet, sehen wir minutenlang das stumm und gefasst weinende Gesicht Blumes als Rita Seidel, neunzehnjährige Heldin des Films.
Anders als später im berühmten Videoclip zu Sinéad O’Connors „Nothing Compares To You“ geht es hier aber nicht bloß um die Züge eines Menschen als Bild einer Seele, sondern um gesellschaftliches Bloßgestelltsein, vor aller Augen, umzingelt von Text und Publikum. Diese junge Frau wird sich in einen Wissenschaftler verlieben, der das Land verlässt, und die Entscheidungen, die das erzwingt, sind weiß Gott nicht nur psychologische. Eberhard Esche spielt den Mann, der Renate Blumes Gesicht, das die deutschen Widersprüche der Epoche in vielen Szenen vom restlichen Ensemble betont alleingelassen artikulieren muss, immer wieder festzuhalten und mit Küssen in Besitz zu nehmen versucht. Es ist unmöglich. Dieses Gesicht widersteht jedem Versuch, es blind zu lieben; es öffnet alle Augen. Die spektakulärste Sequenz ist ein Doppeldialog: Blume spricht mit Günther Grabbert und anderswo, anderswann mit Esche, geschnitten, als ob sie gleichzeitig mit beiden spräche und sie damit zur Konfrontation nötige; ein Moment, bei dem sich selbst Godard die Augen reiben muss.
Was immer Renate Blume danach anfing, stets hielt sie das Gleichgewicht zwischen Konzentration und Vieldeutigkeit – ob sie im Western „Ulzana“ (1974) den Satz „Ich hab’ Angst“ sagt, als wäre das die Hauptkampflosung aller Mutigen, oder im selben Jahr in der volkserzieherisch gemeinten Serie „Der Leutnant vom Schwanenkietz“ (1974) einem wackeren Polizisten in der Badefreizeit erklärt, warum Bildung wichtiger ist als Gesetz und Ordnung: Immer versuchen Jungs oder Männer, sich selbstherrlich auf Wörter zu setzen, die im Drehbuch stehen, das sie als Thron missdeuten, und jedes Mal zieht ihnen diese Frau die Gewissheiten mit einem einzigen Blick unterm Hintern weg. Heute wird Renate Blume achtzig Jahre alt.