Wunderfrucht aus Ostasien: die Haskap-Beere
Eine Schönheit ist sie nicht, doch sie steckt voller Wunderkräfte: die Haskap-Beere.
Das stolze Volk der Ainu, der sammelnden und jagenden Ureinwohner auf der nordjapanischen Insel Hokkaido, kannte zwar nicht Segen und Fluch des Fortschritts, dafür aber die Wahrheit der Natur. Die Ainu entdeckten, dass eine unscheinbare, tränenförmige, heidelbeerblaue Frucht ihnen wahre Wunderkräfte verlieh und nannten sie Haskap, die Beere des langen Lebens und der guten Sehkraft. Jahrtausendelang hüteten sie ihr Geheimnis und teilten es erst in Zeiten der Shogune mit den übrigen Japanern, die bis heute die Haskap-Beere in höchsten Ehren halten.
Biobauer aus Leidenschaft und Überzeugung: Michael Decker geht gerne unorthodoxe Wege.
Ihr Saft wird in Apotheken verkauft, und Piloten trinken ihn gerne auf langen Nachtflügen, damit ihre Augen nicht ermüden. Das größte Mysterium aber ist, dass die übrige Welt keine Notiz von der Frucht nahm, bis vor ein paar Jahren einige tollkühne Pioniere in Europa und Nordamerika beschlossen, dass das Geheimnis des langen Lebens und guten Sehens kein exklusives Privileg der Japaner sein sollte.
Die Saison ist kurz, die Palette an Produkten aus der Haskap-Beere deswegen groß.
Welche Welt wollen wir den Kindern hinterlassen?
Einer von ihnen ist der Biobauer Michael Decker aus Cadolzburg in Franken, der vor zehn Jahren auf einer landwirtschaftlichen Fachmesse in Berlin zum ersten Mal in seinem Leben einen Haskap-Strauch sah. „Ich hatte noch nie von der Beere gehört, obwohl ich Agrarwissenschaften studiert habe“, sagt Decker, der nach kurzer Bedenkzeit beschloss, auf seinen Feldern die blaue Frucht zu pflanzen – ohne zu ahnen, worauf er sich einließ, weil es weder Fachliteratur noch Erfahrungswerte gab und er sich alles Wissen selbst aneignen musste. Doch aus genau diesem herausfordernden Grund wollte er nie etwas anderes als Bauer werden.
Die Geschichte seines Hofes reicht zwar nicht wie die der Ainu bis ins Pleistozän zurück, aber immerhin bis ins Jahr 1600. Seither führt ihn Deckers Familie ohne Unterbrechung und immer mit Lust an Experimenten. Neben Klassikern wie Zuckerrüben, Weizen und Dinkel bauen die Deckers auch einen bunten Strauß von Sonderkulturen wie Spargel und Kürbis an, sogar mit Melonen und Artischocken haben sie es schon versucht. Als dann 2017 Michael Deckers Sohn geboren wurde und er sich fragte, welche Welt er seinen Kindern hinterlassen wolle, stellte er den Betrieb auf ökologischen Landbau um – und da kam ihm die Haskap als eine der letzten von industriellen Rationalisierungs- und Optimierungszüchtungen verschonte Ur-Beere gerade recht.
Höchster Respekt vor der Natur
Michael Decker deutet auf die Decke seines Büros, an der rötliche Flecken durch den weißen Anstrich schimmern. Vor einiger Zeit habe sein kleiner Sohn hier eine Flasche mit Haskap-Saft fallen gelassen, der dann durch das gesamte Büro gespritzt sei. Dutzende Male habe er die Decke danach gestrichen, doch der Saft sei so intensiv, dass ihn nichts verdecken könne. Und genau diese Intensität ist ein Zeichen für die hohe Konzentration an gesunden Inhaltsstoffen, die in der Haskap stecken. „Wenn man eine industriell gezüchtete Heidelbeere aufschneidet, ist ihr Fruchtfleisch weiß. Bei der Haskap ist es tiefrot, so wie es von Natur aus sein sollte“, sagt Decker, der als Biobauer konsequent auf jede künstliche Verfrühung seiner Beeren in Gewächshäusern oder mit Folien verzichtet, weil er aus Respekt vor der Natur nicht in deren Prozesse eingreifen will – was die Haskap-Beere ihm und unserer Gesundheit auf mannigfache Weise dankt.
Allein die Konzentration des Pflanzenfarbstoffs Anthocyan, der schädliche freie Radikale im Körper bindet, ist in der Haskap viermal höher als etwa in einer Blaubeere, und jene der Antioxidantien, die Zellen vor dem Zerfall schützen und entzündungshemmend wirken, dreimal höher. Außerdem strotzen die Beeren vor Eisen, Magnesium, Phosphor, Kalzium, Zink und den Vitaminen A, C und E, sodass sie nicht nur das Augenlicht stärken, sondern auch gut gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Stresssymptome und sogar Krebs sind.
Hochdelikat und sehr kapriziös
Erst 2018 wurde die Haskap in Europa als Lebensmittel zugelassen, und Michael Decker war einer der allerersten, der sie anpflanzte. Heute stehen auf 20 seiner 100 Hektar Fläche die Wunderfrüchte, was ihn zum größten Haskap-Produzenten in Deutschland macht. Dass er an der Spitze einer nahenden Massenbewegung steht und die Haskap Weltkarriere als das nächste Superfood machen wird, glaubt er allerdings selbst nicht, denn dazu ist sie zu kapriziös und arbeitsintensiv. Ihre Schale ist so dünn, dass sie sich – ähnlich wie die hochdelikate Erdbeersorte Mieze Schindler – nach der Ernte nur wenige Tage lang hält, und ihre Ansprüche an Boden und Bewässerung sind derart hoch, dass sie Decker ständig auf Trab hält. Er muss pausenlos düngen und den ph-Wert im Blick haben, die Erde zwischen den Sträuchern mit Gewebe abdecken und seine Pflanzen mit Zäunen vor Rehen schützen, die offensichtlich auch Freude am langen Leben haben.
Doch die Vorteile wiegen für Decker all diese Launenhaftigkeit auf: Die Haskap wird schon im Mai reif und ist damit konkurrenzlos weit vor der Erdbeere die erste Beere, die man in Deutschland ernten kann. Ihr Geschmack erinnert einerseits an ein Potpourri aus allen erdenklichen Waldfrüchten, gewürzt mit dezenten Kirschnoten, und ist andererseits etwas ganz Eigenständiges, viel mehr als nur die Quersumme dieser Aromen, ein Geschmack so urwüchsig und tiefgründig, so komplex und kraftvoll wie bei keiner anderen Beere. Und in der Küche ist sie ein Alleskönner, weswegen sie unter anderem von den fränkischen Zwei-Sterne-Köchen Alexander Herrmann und Tobias Bätz aus Wirsberg hochgeschätzt wird.
Weihnachtsbesuch in Hokkaido
Michael Decker macht aus der Beere, deren Saison spätestens Anfang Juli schon wieder vorbei ist, Direktsaft und Balsamico-Essig, Fruchtaufstrich und Fruchtwein, Pulver und Senf und zur Adventszeit auch einen Punsch. Seine Kinder essen Haskap-Beeren Tag und Nacht, seine Kunden bestätigen ihm immer wieder ihre segensreiche Wirkung, und er selbst würde gerne noch viel mehr über die Frucht der Ainu lernen, wenn er nur die Zeit dafür fände. In Hokkaido leben noch die letzten ihrer Nachfahren und könnten Auskunft aus erster Hand geben – höchste Zeit also für einen Weihnachtsbesuch mit fränkischem Haskap-Punsch.