„Vogelgrippe nicht unter Kontrolle“: Virologen warnen vor Pandemie, Politiker vor Panikmache
Wissenschaftler sehen mittelfristig die Gefahr einer Übertragung des H5N1-Virus auf den Menschen, wenn nicht stärker gegengesteuert wird. In der Berliner Regierungskoalition will man die Warnung „sehr ernst nehmen - ohne freilich in Panik zu verfallen“.
In den Milchviehbeständen von mittlerweile zwölf US-Bundestaaten grassiert das Virus - für Virologen ein alarmierender Zustand, weil die weite Verbreitung das Risiko der Anpassung und Mutation erhöht.
Immer mehr Experten warnen davor, dass die Vogelgrippe mittelfristig auf den Menschen überspringen könnte. Anlass ist die sich seit einem halben Jahr ausweitende Infektionswelle mit dem Erreger in Milchviehbeständen in mittlerweile zwölf Bundesstaaten der USA. „Die Situation ist nicht unter Kontrolle“, sagte die Virologin Isabella Eckerle dem Tagesspiegel. Zwar sei „nicht innerhalb von Wochen oder Monaten“ mit einer Übertragung auf Menschen und einer Weitergabe des Virus auf weitere Personen zu rechnen: „Die Wahrscheinlichkeit dazu steigt aber, je länger und je breiter das Virus in verschiedenen Säugetieren zirkuliert.“
Aus diesem Grund kritisierte die Leiterin des Zentrums für neuartige Viruserkrankungen der Uni Genf den laxen Umgang der US-Behörden mit dem Ausbruch scharf: „Es scheint, als würde man die Eliminierung des Virus aus den Rinderherden überhaupt nicht in Erwägung ziehen.“ Der frühere Harvard-Epidemiologe Michael Mina sprach von einem „Spiel mit dem Feuer“. In Finnland, wo das Virus in Pelztier- und Vogelfarmen grassiert, sollen Mitarbeiter vorsorglich geimpft werden.
Gefahr für Bevölkerung „weiterhin gering“
Das Bundesgesundheitsministerium verwies am Dienstag auf die Einschätzung der zuständigen EU-Behörde, wonach das „Risiko für die Bevölkerung in Europa / Deutschland weiterhin gering ist“. Zudem habe die Bundesrepublik, „bereits während der Corona-Pandemie Lehren aus der Pandemie gezogen und Defizite ausgeglichen“. So könne ein mögliches Infektionsgeschehen heute durch Abwassermonitoring besser überwacht werden. Die Strukturen, um im Bedarfsfall schnell neue Impfstoffe und Medikamente produzieren zu können, seien nun vorhanden.
Deutschland ist jetzt insgesamt viel besser auf eine mögliche neue Pandemie vorbereitet.
Die SPD-Gesundheitspolitikerin Heike Baehrens
Für die Virologin Eckerle stellt sich trotzdem „die Frage, wie wir in Deutschland auf eine H5N1-Pandemie reagieren würden“. Es fehle die langfristige Perspektive, und der Fokus auf Prävention. „Wir sind nach Corona in ein paar technischen Aspekten besser aufgestellt, aber insgesamt, als Gesellschaft, stehen wir schlechter da“, sagte Eckerle: „Die extreme Politisierung des Themas, und das gigantische Ausmaß an Falschinformationen in den sozialen Medien werden die Kontrolle einer zukünftigen Epidemie oder Pandemie sehr viel schwieriger machen.“
Regierungskoalition will auf mögliche Empfehlungen reagieren
„Wir müssen die neuen Warnungen der Wissenschaft sehr ernst nehmen – ohne freilich in Panik zu verfallen“, sagte Heike Baehrens, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, dem Tagesspiegel. „Deutschland ist jetzt insgesamt viel besser auf eine mögliche neue Pandemie vorbereitet, auch wenn wir noch einige Lehren aus der Coronazeit umzusetzen haben.“ Im Zentrum müsse jetzt erst einmal der internationale Austausch der zuständigen Institute mit der Weltgesundheitsorganisation stehen, so Baehrens: Wir sind dann jederzeit bereit, mögliche internationale Empfehlungen schnell in Gesetze und Verordnungen zu gießen.“
Für die Gefahr einer neuen Pandemie mit dem Ausmaß von Corona gibt es aus heutiger Sicht keinerlei Anzeichen.
Der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge
Ihr Grünen-Amtskollege Janosch Dahmen hatte im „Stern“ davor gewarnt, die Folgen könnten „verheerend“ sein, wenn das Virus weiter Gelegenheit zur Mutation bekomme - dies gelte insbesondere für „eine, wenn auch unwahrscheinliche Kombination mit anderen Influenzaviren“. Er forderte deshalb die Bundesregierung auf, sie solle die bestehenden „Abwassermonitorsysteme auf H5N1 ausweiten“ und „Notfallpläne für eine mögliche Impfstoffproduktion anpassen“.
„Für Panikmache gibt es keinen Anlass“, warnte der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge. „H5N1 ist ein seit vielen Jahren bekannter Erreger“, sagte er dem Tagesspiegel. Deutsche und europäische Behörden beobachteten die Entwicklungen aufmerksam und tauschten sich auch mit internationalen Stellen aus: „Für die Gefahr einer neuen Pandemie mit dem Ausmaß von Corona gibt es aus heutiger Sicht keinerlei Anzeichen.“