Scholz in Polen bei Tusk: Wie gefährlich ist Putins Russland für die EU?
Beide Regierungschefs suchen noch nach einer einheitlichen Linie im Umgang mit Russland: Kanzler Olaf Scholz reist am Dienstag im Rahmen der Regierungskonsultationen nach Warschau.
Berlin und Warschau geben sich wieder die Hand. Seit dem Regierungswechsel im Präsidentenpalast an der Weichsel betonen Ministerpräsident Donald Tusk oder der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski, dass die Bundesrepublik „kein Feind, sondern Freund“ der Polen sei. Die 16. Regierungskonsultationen zwischen Berlin und Warschau, die am heutigen Dienstag in der polnischen Hauptstadt beginnen, wecken deshalb auch große Erwartungen.
Im Mittelpunkt steht nämlich die Sicherheits- und Verteidigungspolitik beider Länder. Berlin und Warschau hatten über Jahrzehnte oftmals unterschiedliche Sichtweisen auf globale Konfliktthemen – insbesondere im Umgang mit Russland. Allen voran die unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen scheinen beide Länder – auch weiterhin – stärker zu trennen als zu vereinen.
„Oftmals ist man sich in Deutschland nicht bewusst, in welchem Umfang Polen vor allem in den ersten Kriegsmonaten 2022 der Ukraine militärisch Beistand geleistet hat – und welche rüstungspolitischen Konsequenzen dieses Handeln bis heute hat“, schreibt beispielsweise die Kopernikus-Gruppe vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt.
Vor allem innerhalb der polnischen Politelite hätten der Ukrainekrieg und die europäische Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte auf die Bedrohungswahrnehmung erhebliche Auswirkungen. „Gleichzeitig hat Deutschland die Bundeswehr über Jahre vernachlässigt“, schreiben die Autoren der Kopernikus-Gruppe. „Die polnischen und die deutschen Streitkräfte sind demnach beide in einer schwierigen Situation.“
Immer wieder im Mittelpunkt sicherheitspolitischer Diskussionen in Polen: die EU- und Nato-Außengrenze nach Belarus.
Polen spielt seit mehreren Jahren sicherheitspolitisch für die EU und die Nato eine immer wichtigere Rolle. Allein durch die geografischen Gegebenheiten steht das Land verstärkt im Fokus globaler Konflikte. Polen ist beispielsweise das einzige Land, das eine gemeinsame Grenze mit Russland, Belarus und der Ukraine hat.
Außerdem gilt die polnische liberalkonservative Regierung unter Ministerpräsident Tusk – gemeinsam mit den baltischen Staaten – als eine Art selbstbewusster Taktgeber in Brüssel, wenn es um die Russlandpolitik geht: von Sanktionen über gemeinsame Militärübungen mit den westlichen Verbündeten bis hin zur Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge.
Doch worum wird es den Polen in den Gesprächen mit Scholz, Baerbock, Pistorius und Co. konkret gehen? Aus sicherheitspolitischen Kreisen in Warschau hört man, dass allein schon die deutsche Anerkennung der realen Bedrohungsszenarien ein Fortschritt wäre. Nicht zuletzt die Forderung Polens nach mehr Geld und dem „Aufbau eines Verteidigungsinfrastruktursystems entlang der EU-Außengrenze zu Russland und Belarus“ spielt dort eine gewichtige Rolle.
Warschau erwartet beispielsweise in Grenzfragen mehr Koordination mit Deutschland und anderen westeuropäischen Verbündeten. Mit Belarus teilt sich Polen eine 400 Kilometer lange Grenze; zudem befindet sich im Nordosten des Landes die russische Exklave Kaliningrad; die berüchtigte Suwalki-Lücke bildet die militärpolitische Achillesferse der Nato – deshalb wird das osteuropäische EU-Land medial oftmals als „Frontstaat“ bezeichnet. Und die polnische Regierung betont immer wieder eine dringende Notwendigkeit, die EU vor militärischen und hybriden Bedrohungen zu schützen.
Die Polen wollen deshalb – wie auch Estland, Lettland und Litauen – mehr EU-Geld für die militärische und zivile Grenzsicherung mobilisieren. Die vier Länder warnen in einem Schreiben an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und den EU-Ratspräsidenten Charles Michel vor der militärischen Bedrohung durch den Kreml sowie den größten Verbündeten Russlands in Europa, Belarus.
Bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen in Warschau wird deshalb auch der industrielle Militärkomplex in den Mittelpunkt rücken. Zwischen deutschen und polnischen Rüstungskonzernen sollen, so der Tenor, mehr Kooperationen entstehen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird in Warschau mit militärischen Ehren empfangen, wie der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner vergangene Woche mitteilte. Nach einem Gespräch der Regierungschefs findet die Plenarsitzung der Konsultationen mit Ministern beider Seiten statt – später ist eine gemeinsame Pressekonferenz geplant.
Die bis dato letzten Regierungskonsultationen fanden 2018 statt, obwohl der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag von 1991 Treffen der Regierungschefs mindestens einmal jährlich vorsieht. Scholz’ letzter Besuch in Warschau datiert vom Dezember 2021 – damals kam er zu seinem Antrittsbesuch nach Polen. Seitdem war der SPD-Politiker allerdings nicht mehr in der polnischen Hauptstadt.
Die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau unter der PiS-Vorgängerregierung galten als zutiefst unterkühlt. Immer wieder machte die rechtsnationale und europakritische PiS einen antideutschen Wahlkampf. Tusk, seit Dezember 2023 im Amt, ist hingegen gewillt, die Beziehungen zu Berlin und Brüssel zu normalisieren.