Frankreich: Die Brandmauer gegen Le Pen wächst, ist aber noch löchrig
Anhänger der linken Nouveau Front populaire (Neuen Volksfront) am Sonntagabend, an dem der rechte Rassemblement National Wahlsieger wurde.
208 von 306 Drittplatzierten der Parlamentswahl treten nicht zur zweiten Runde an – zugunsten anderer Kandidaten, die nicht der extremen Rechten angehören. Folgen weitere ihrem Beispiel? Die Entscheidungsfrist läuft heute ab.
Die Brandmauer gegen Le Pen wächst, ist aber noch löchrig
Premieren, Rekorde, Kuriositäten – in der französischen Politik passieren gerade viele Dinge zum ersten Mal. Diese Wahlphase ist selbst für politisch nur marginal interessierte Menschen so spannend und denkwürdig, dass andere Großereignisse dahinter verblassen, sogar die Fußball-Europameisterschaft.
Dazu muss man sagen, dass die Bleus, Frankreichs Nationalspieler, mit ihren uninspirierten Auftritten bisher auch wenig beitragen zur Ablenkung. Außer natürlich, sie reden ebenfalls von Politik, mehr oder weniger deutlich. Nach Kylian Mbappé, dem französischen Superstar, und Marcus Thuram, Sohn des politisch sehr engagierten ehemaligen Spielers Lilian Thuram, hat sich nun auch der rechte Außenverteidiger mit einer Wahlempfehlung gemeldet. Jules Koundé, so heißt der Mann, rief nach dem Spiel gegen Belgien die Franzosen dazu auf, den Rassemblement National (RN) zu stoppen, weil der das Land spalte, das sei seine Meinung. „Faire barrage“, sagte er, das kann auch abblocken meinen, oder verhindern, der Sinn ist immer derselbe.
Die politische Landschaft ist in drei größere Blöcke gespalten
Faire barrage ist gerade der meistgebrauchte Begriff in Frankreich, nachdem Marine Le Pens rechtsextreme Partei und deren Verbündete im ersten Durchgang der vorgezogenen Parlamentswahlen ein historisch hohes Ergebnis erzielt haben: 33,2 Prozent der Stimmen. Nun versuchen Len Pens Gegner, ihren Durchmarsch zu einer absoluten Mehrheit in der neuen Volksversammlung mit einer sogenannten republikanischen Front zu verhindern, einer Brandmauer. Jules Koundé ist also ein Anhänger von diesem Projekt.
Damit es gelingt, müssen sich bis Dienstagabend, 18 Uhr, möglichst viele linke, zentristische und bürgerliche Kandidaten, die auf Platz drei gelandet waren, aus jenen Rennen zurückziehen, in denen sich die Stimmen sonst zugunsten von Lepenisten verzetteln würden.
Solche triangulaires, also Dreieckswahlen, gäbe es ohne Rückzüge diesmal so viele wie noch nie zuvor: 306. Der frühere Rekord lag bei 78, im Jahr 1997. Das liegt einerseits daran, dass die Wahlbeteiligung sehr hoch war: fast 67 Prozent. Außerdem ist die politische Landschaft in drei mehr oder weniger große Blöcke gespalten. In der Summe begünstigte das eine Häufung der triangulaires.
Die Macronisten sind uneins, die Konservativen halten sich noch alle Optionen offen
Darum ist nun auch die Anzahl derer, die ihre persönlichen Ambitionen opfern und auf eine Teilnahme in der zweiten Wahlrunde verzichten, so groß wie noch nie. Die Zeitung Le Monde zählte bisher 208 Rückzüge, die meisten kommen vom linken Bündnis Nouveau Front populaire, das angekündigt hat, alle Drittplatzierten zurückzuziehen. Das zentristische Lager von Präsident Emmanuel Macron, Ensemble, war zunächst weniger konsequent. Es schickte sich an, in manchen Wahlkreisen, in denen ein Bewerber der sehr linken France insoumise besser platziert ist, seinen eigenen Kandidaten auch im Rennen zu behalten.
Was Macron selbst genau denkt, ist nicht klar. Im kleinen Kreis, so berichtet es die französische Presse, soll er gesagt haben: Die größte Gefahr gehe von der extremen Rechten aus, die stünden nun kurz davor, hohe Verantwortung im Staat zu bekommen. Das ist eine denkwürdig späte Erkenntnis des Präsidenten. Er scheint auch seine wichtigsten Weggefährten nicht mehr im Griff zu haben, jeder singt sein eigenes Lied. „In dieser Kakophonie geht die Stimme des Präsidenten unter“, schreibt Le Monde. Es ist, als zahlten es ihm die Seinen jetzt heim, dass er das Parlament aufgelöst hat, ohne sich vorab mit ihnen zu besprechen.
Die konservativen Républicains wiederum, die im ersten Wahlgang nur 6,5 Prozent der Stimmen gewannen, äußerten sich fast gar nicht zur „republikanischen Front“. Sie halten sich so alle Optionen offen.
Für viele Menschen auf dem Land ist der RN eine normale Partei
Doch bleibt die Frage, ob das Wahlvolk den Empfehlungen und Strategien der Parteien überhaupt folgen wird. Früher war der Reflex jeweils verlässlich, fast ein Automatismus: Es gab immer genügend Franzosen, die den früheren Front National für unwählbar hielten, für eine Zumutung. Aber ist das auch heute so? Mit 10,6 Millionen Stimmen stellen die Lepenisten derzeit die deutlich größte Partei Frankreichs; für immer mehr Menschen auf dem Land ist der Rassemblement National eine Partei wie jede andere.
Ungewiss erscheint auch die Lust linker Wähler, die nun Bewerber aus Macrons Lager wählen sollen, um die Lepenisten zu bremsen –etwa die frühere Premierministerin Élisabeth Borne im sechsten Wahlkreis des Calvados: Alle haben sie noch als Regierungschefin im Kopf, die per Dekret die umstrittene Rentenreform durchs Parlament forciert hat. Die Macronisten haben im vergangenen Winter auch ein Immigrationsgesetz verabschiedet, das in seinem Wesen sehr nahe an den Vorstellungen der extremen Rechten war.
Wie also verhält sich das Volk in dieser beispiellosen Wahlsequenz? Die Umfrageinstitute sind überfordert. Gehen viele am Sonntag nicht mehr wählen? Oder gehen im Gegenteil noch mehr wählen als im ersten Durchgang – je nachdem, ob sie eine Le Pen an der Macht als Chance oder als Gefahr sehen? Jedenfalls war schon lange nicht mehr so viel Passion in der französischen Politik wie jetzt.