„Es herrscht längst wieder Behördendenken“: Was läuft falsch bei der Bahn? Drei Ex-Spitzenmanager berichten
Fast jeder zweite Fernzug kam im Juni zu spät an. Die Bahn macht die Unwetter verantwortlich. Das ist nur ein Teil der Wahrheit – und nur eines der Probleme.
Radsätze für Züge der Deutschen Bahn sind vor ICE-Waggons zu sehen.
Die Deutsche Bahn kommt in diesen Tagen nicht aus den schlechten Nachrichten heraus. Wie „Bild“ knapp zwei Wochen vor der offiziellen Bekanntgabe verkündete, kam im Juni nur noch gut jeder zweite Fernzug der Deutschen Bahn AG (DB) pünktlich an.
Für den katastrophalen Wert machte das Bahnmanagement am Montag die Unwetter Anfang Juni in Süddeutschland verantwortlich. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Vor einigen Jahren erreiche der Konzern noch Pünktlichkeitswerte von rund 80 Prozent. Auch ohne Starkregen muss die Bahn inzwischen froh sein, wenn wenigstens zwei Drittel ihrer ICEs und Intercity mit weniger als sechs Minuten Verspätung das Ziel erreichen.
Lutz dankt Mitarbeitern für schwierigen EM-Einsatz
Im Aufsichtsrat am Donnerstag musste sich Bahnchef Richard Lutz kritische Fragen zum schlechten Service während der Europameisterschaft gefallen lassen. Lutz soll daraufhin die Probleme zwar nicht geleugnet haben, aber auch auf Turnierchef Philipp Lahm verwiesen haben, berichten Teilnehmer. Lahm hatte zwar wegen der Bahn selbst ein Spiel verpasst, habe sich aber insgesamt, so Lutz, „zufrieden“ mit der Bahn gezeigt.
Nach der Aufsichtsratssitzung verfasste Lutz zusammen mit den beiden Spitzen des Aufsichtsrats ein Schreiben an die Mitarbeiter, um ihnen für ihren schwierigen EM-Einsatz angesichts der „widrigen Umstände“ zu danken. Das Schreiben liegt dem Tagesspiegel vor. Dass der Bahnchef die aktuellen Probleme nicht sehe, weist man in Konzernkreisen dann auch energisch zurück.
Doch bei vielen Beobachtern hat sich der Eindruck festgesetzt, dass der Leistungsgedanke im Bahnkonzern irgendwann völlig verloren gegangen ist. Der Tagesspiegel hat sich umgehört bei denjenigen, die es wissen müssen: drei ehemaligen Spitzenmanagern, die die Geschicke des Staatskonzerns auf Toplevel mitbestimmt haben.
Nur einer von ihnen möchte in dieser Geschichte mit seinem Namen auftauchen: Christian Schreyer, der unter dem früheren Bahnchef Hartmut Mehdorn als junger Manager bis zum Leiter der Konzernstrategie aufstieg.
Dass viele den Beginn der Bahnmisere in Mehdorns Ära verorten, macht Schreyer wütend. „Ich finde dieses Hartmut-Mehdorn-Bashing unerträglich“, sagt er. Als dieser den Konzern nach dem abgesagten Börsengang 2009 verließ, habe die Bahn Gewinne gemacht, betont Schreyer. Mehdorn habe die ehemalige Behörde auf Effizienz getrimmt. „Damit macht man sich in der Politik nicht nur Freunde.“ Am Ende sei Mehdorn daran gescheitert, dass sich zu viele Stakeholder gegen ihn gestellt hätten.
Ich finde dieses Hartmut-Mehdorn-Bashing unerträglich.
Christian Schreyer, Ex-Manager der Deutschen Bahn
Heute wird Mehdorn oft vorgeworfen, dass er das Schienennetz zusammengestrichen und dessen Wartung vernachlässigt habe, was die aktuellen Verspätungen erkläre. Zu Unrecht, findet Schreyer. „Mehdorn wusste, dass eine starke Infrastruktur wichtig für die Privatisierung der DB ist.“
Zwar war der Börsengang der DB AG zuletzt ohne die Infrastrukturunternehmen geplant, die in Staatshand bleiben sollten. Dennoch habe Mehdorn mit der Politik die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung entwickelt. Sie sollte sicherstellen, dass der Staat kontinuierlich in den Erhalt des Schienennetzes investiert.
Fokus auf politische Ziele
Für die heutige Misere macht Schreyer Mehdorns Nachfolger Rüdiger Grube und Richard Lutz verantwortlich. Und unter ihnen habe der Fokus des Bahnvorstands allein darauf gelegen, den integrierten Konzern zu erhalten – also eine Trennung zwischen Fahrgeschäft und Infrastrukturbetrieb zu verhindern. Dafür hätten sie eine immer größere Konzernverwaltung mit einer riesigen Lobbyabteilung aufgebaut.
Die Bahngewerkschaft EVG sei für das Bahnmanagement eine der wenigen Verbündeten im Kampf um den integrierten Konzern geworden. „Die EVG hat dadurch viel zu viel Macht erhalten.“ Die Gewerkschaft und die Betriebsräte würden nun jede Effizienzverbesserung im Konzern verhindern. „In der Bahn herrscht längst wieder ein Behördendenken“, meint Schreyer.
Schreyer wechselte 2014 zu Transdev – einer Privatbahn – und wurde zu einem der schärfsten Kritiker des DB-Konzerns. Zwei Spitzenmanager, die unter Grube und Lutz Karriere machten, urteilen unter der Bedingung der Anonymität allerdings ganz ähnlich. In dieser Geschichte sollen sie Meier und Müller heißen.
Niemand reagiert auf Probleme
Meier nennt die Bahn ein „politisch veranlagtes Unternehmen“. Die Konzernverwaltung im Bahntower bezeichnet er als einen „enormen Wasserkopf“, dessen größte Stärke die „Public Relations“ sei. Zwischen dem Vorstand und Praktikern im Bahnbetrieb gebe es bis zu 15 Berichtsebenen.
Das mittlere Management sei eine „Lehmschicht“. Es sei sehr darauf bedacht, seine eigene Existenz zu rechtfertigen, treffe jedoch in der Praxis keine Entscheidungen. Aufgrund dieser komplexen Struktur mit viel zu vielen Ebenen reagiere niemand, wenn Projekte aus dem Ruder liefen.
Dass Lutz etwas an diesen verkrusteten Strukturen ändert, glaubt Meier nicht. „Sowas kann nur jemand von außen machen“, sagt er. Lutz habe direkt nach seiner Promotion bei der Bahn angefangen. Er sei Teil des Systems.
Aufsichtsrat verhindert mehr Effizienz
Für das wirtschaftliche Versagen der Bahn macht Müller auch den Eigentümer verantwortlich. Kein Manager bei der Bahn wolle Verluste machen, aber Bemühungen, den Betrieb effizienter zu machen, würden vom Aufsichtsrat ausgebremst.
Als Beispiel verweist Müller auf DB Cargo. Die Gütertochter der Bahn hat in den vergangenen Jahren immer mehr Frachtvolumen an die Konkurrenz verloren und trotzdem jedes Jahr rund eine halbe Milliarde Euro Verlust gemacht.
Ein Schienennetz kann man nicht wirtschaftlich betreiben.
Ein anonymer Ex-Manger der Deutschen Bahn
Das liegt auch an den kommoden Arbeitsbedingungen der Lokführer, denen der Konzern zugesteht, jeden Abend im eigenen Bett zu schlafen. Die Lokführer der Konkurrenz sind hingegen oft tagelang mit ihrer Fracht unterwegs.
Mehrere Güterverkehr-Vorstände hätten versucht, dieses Privileg abzuschaffen, berichtet Müller. Sie alle seien an der Allianz der EVG und der SPD im Aufsichtsrat gescheitert. Bis heute habe die Politik nicht geklärt, ob sich die Bahn um die Daseinsvorsorge kümmern oder Gewinne erzielen solle, sagt Müller.
Missglückte Mini-Bahnreform
Wie Schreyer hält es Meier für einen Fehler, dass die Infrastruktursparte nicht aus dem Konzern ausgegliedert wurde. „Ein Schienennetz kann man nicht wirtschaftlich betreiben“, sagt er. „Hier ist der Bund gefragt.“ Doch das viele Steuergeld für das Netz nutze die Bahn auch für Quersubventionierungen. Deshalb arbeiteten inzwischen neben DB Cargo auch der Fern- und Regionalverkehr nicht mehr wirtschaftlich.
Es wurde ein neuer Moloch geschaffen, schnelle und effiziente Prozesse sind da kaum möglich.
Christian Schreyer, Ex-Manager der Deutschen Bahn
Nun scheint eine Aufspaltung der Bahn allerdings endgültig vom Tisch. Denn die Ampelkoalition hat sich stattdessen für eine Mini-Bahnreform entschieden. Die Infrastrukturtöchter DB Netz und DB Station & Service wurden zusammengelegt. Die neue DB InfraGO soll jetzt innerhalb des Konzerns gemeinwohlorientiert arbeiten.
Schreyer hält diese InfraGO für „völlig misslungen“. „Es wurde ein neuer Moloch geschaffen, schnelle und effiziente Prozesse sind da kaum möglich.“ Er kritisiert, dass das Management der InfraGO gegenüber den Konzernvorstand weisungsgebunden bleibt. Zudem würden auch die Steuermittel für das Schienennetz de facto weiter an die Holding fließen.
Durch die InfraGO werde deshalb weder die Nutzung der Steuermittel transparenter, noch könne der Bund die Infrastrukturgesellschaft besser steuern. Schreyer trauert noch immer dem 2008 abgesagten Börsengang nach. „Schon damals sollten das Fahrgeschäft und der Infrastrukturbetrieb voneinander getrennt werden“, sagt er.