Eine große Gruppe Bruderherzen: Wandergesellen machen Station in der Börde
Auf der Walz
Eine große Gruppe Bruderherzen: Wandergesellen machen Station in der Börde
Ernsthaft? Ernsthaft! Lächeln oder gar lachen fürs
Mindestens drei Jahre und einen Tag sind Wandergesellen unterwegs – dabei müssen sie auf vieles verzichten. Wir haben zehn Gesellen in Röllingsen getroffen.
Röllingsen – Rush Hour in Röllingsen ist relativ und quasi rund um die Uhr – die Verkehrssituation auf den paar Straßen im eher beschaulichen Ortsteil südwestlich der Kernstadt ist durchgehend entspannt. Dennoch haben es jetzt zehn junge Männer geschafft, sich per Anhalter bis zur Zimmerei und Dachdeckerei von Thomas Gutwin durchzuschlagen. Dort sind sie für ein paar Tage untergekommen, bevor sie ihre Wanderschaft fortsetzen werden: Mattis, Paul, Marius, Vincent, Joe, Friedrich, Lukas, Felix, Matz und Leon sind Handwerksgesellen auf der Walz.
Ungewöhnlich große Gruppe: Wandergesellen machen Station in der Börde
Meistens sind sie ja entweder alleine oder zu zweit unterwegs – dass die Morgensonne vor dem Betrieb von Thomas Gutwin auf eine deutlich größere Gruppe von Wandergesellen in der für sie typischen Kluft scheint, ist zwar ungewöhnlich, ein Zufall ist es aber nicht.
Die Zimmerer, Tischler und Dachdecker sowie Maurer Felix verabredeten sich, um erst vor einigen Tagen einen Neuen in Waltrop abzuholen und einen Alten nach Hause zu begleiten, wo seine Wanderschaft enden wird. In die Börde zog es die jungen Männer jetzt, weil hier der Möhnesee willkommene Abkühlung an den angekündigten heißen Tagen versprach.
Matz, der Neue, wird mindestens die nächsten drei Jahre (und einen Tag) tippeln, Mattis, der Alte, brach vor vier Jahren im rheinland-pfälzischen Emmelshausen auf. Seitdem haben er und seine Kluft unzählige Baustellen, Menschen und markante Orte gesehen – sowohl in allen Winkeln Deutschlands als auch in den skandinavischen Ländern im Norden Europas, bis hinunter nach Korsika im Süden und sogar einige Wochen im zentralasiatischen Tadschikistan.
Die Wandergesellen lassen viel zurück
Als 19-Jähriger war er 2020 über das Ortsausgangsschild seiner kleinen Heimatstadt im Hunsrück geklettert und losgezogen. Jetzt ist für ihn die Zeit gekommen, um den 50-Kilometer „Bannkreis“ um Emmelshausen, den er seitdem nicht hatte betreten dürfen, keinen Bogen mehr zu schlagen, in umgekehrter Richtung wie damals über das Ortseingangsschild zu klettern und seine Kluft auszuziehen und in den Schrank zu hängen. So ein Möbelstück hat er auf seiner Wanderschaft weder besessen noch benötigt: Wer auf die Walz geht, reist mit ganz leichtem Gepäck – er muss es schließlich selbst tragen.
Das führt unweigerlich dazu, dass die Handwerksgesellen vieles zurücklassen in ihrem alten Leben vor dem Beginn des Tippelns – neben Freunden, Familien und lieb gewonnenen Hobbys auch alles Materielle, was wiegt. Zum Beispiel Handys.
Kein Problem für Joe: Ein Leben ohne Smartphone ist nicht nur möglich, hat der 22-Jährige schnell festgestellt, es hat sich für ihn auch als „absolut befreiend“ erwiesen – unter anderem, weil er so viel mehr Zeit für Begegnungen mit Menschen und Gespräche mit ihnen hat, also „echte“ Begegnungen und „echte“ Gespräche.
Immer wieder bei der Wanderung auf Hilfe angewiesen
Von denen gibt es zwangsläufig eine Menge: In der Kluft fallen die jungen Männer auf. Entsprechend oft und gerne werden sie von Passanten angesprochen – und müssen selbst auch Menschen ansprechen, weil sie selbst in vielen Situationen auf Unterstützung angewiesen sind: wenn sie ein Dach über dem Kopf für die Nacht benötigen, zum Beispiel, oder eine kostenlose Mitfahrgelegenheit.
Auf Fremde zugehen, weltoffen zu sein und interessiert an der Vielfalt von Kulturen, improvisieren können – all das und vieles mehr, da sind sich die zehn Gesellen einig, haben sie neben wertvollem Wissen in ihren jeweiligen Berufen schon gelernt. Und sie lernen täglich weiter dazu.
Wandergesellen müssen schuldenfrei und unverheiratet sein
Das geht Thomas Gutwin grundsätzlich nicht anders, allerdings hat sich der heute 53-Jährige nie selbst einen Wanderstock geschnitzt, den sogenannten Stenz, und sich aufgemacht in die weite Welt. „Es hat einfach nicht gepasst“, erinnert er sich an seine frühen Zwanziger.
Da hatte er schon ein Haus gebaut und musste sich darum kümmern, es zu bezahlen – für einen Wandergesellen unmöglich: Er muss vor allem frei sein, auch schuldenfrei und unverheiratet. Viel auf Montage herumgekommen ist Thomas Gutwin aber trotzdem. Schon seit vielen Jahren nimmt er, wann immer möglich, durchziehende junge Handwerker in seinem Haus in Röllingsen auf und hat auch Arbeit für sie – wenn sie denn arbeiten wollen und nicht einfach mal ein paar Tage Rast und Ruhe benötigen auf ihren langen weiten Reisen.
Nächste Etappe ist der Westerwald
Die werden die zehn Wandergesellen schon sehr bald fortsetzen: In den Westerwald soll es zunächst gehen, per Anhalter, wie es gerade passt und wie es sich ergibt. Dort werden sie sich aber nur kurz treffen und aufhalten, bevor sie dann Bruderherz Mattis nach Hause bringen – nach Emmelshausen, bis zum Ortseingangsschild.
Im beschaulichen Röllingsen ist dann bei Thomas Gutwin schon wieder die gewohnte Ruhe eingekehrt. Und auf den paar Straßen im Dorf ja sowieso – mit ihrer Rund-um-die-Uhr-Rush-Hour.
Anfang des Jahres machten mehrere Wandergesellen auch in Bad Sassendorf Halt. Dort arbeiteten sie in einem Tischlermeisterbetrieb in Schoneberg.