Labour vor Wahlsieg: Kommen die Briten zurück in die EU?
Endlich eine Wahl ohne Hiobsbotschaften für Europa: Wenn Großbritannien am Donnerstag ein neues Parlament wählt, ist ein Sieg der sozialdemokratischen Labour-Partei nach 14 Jahren konservativer Tories-Regierung so gut wie sicher – wahrscheinlich erzielt Labour unter dem Vorsitzenden Keir Starmer sogar die absolute Mehrheit im Unterhaus. Das wird Folgen für den Brexit haben, die schmerzende Wunde der EU: Labour will wieder bessere Beziehungen zur Europäischen Union, neue Abkommen mit Brüssel. Mindestens. Auf längere Sicht ist mehr drin, glauben britische Proeuropäer: Die Wahl könnte der Anfang vom Ende des Brexit sein. Kommen die Briten zurück in die EU?
Ein erstes großes Projekt ist schon in Sicht: Ein neuer Sicherheitspakt zwischen London und Brüssel könnte das Schlüsselprojekt für die Annäherung sein, Schatten-Außenminister David Lammy hat es schon in München angekündigt. Großbritannien-Experte Nicolai von Onderza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, die die Bundesregierung berät, erklärt: „Nach der wechselseitigen Entfremdung durch den Brexit bietet sich eine Chance, die Beziehungen zwischen der EU und London zu reintensivieren.“
Menschen in London fordern bei einer Demonstration die Rückkehr Großbritanniens in die EU. © Jeff Moore/PA Wire/dpa | Unbekannt|Menschen in London fordern bei einer Demonstration die Rückkehr Großbritanniens in die EU. © Jeff Moore/PA Wire/dpa | Unbekannt
Großbritannien: Bislang keine Mehrheit für den Exit vom Brexit
Die Ausgangslage ist klar: Nach Umfragen halten rund 60 Prozent der Briten den Brexit mittlerweile für einen Fehler. Über 70 Prozent sehen eine wirtschaftliche Verschlechterung durch den EU-Austritt, vor allem durch höhere Preise, Fachkräftemangel und Reiseerschwernisse. Der Brexit verringert die britische Wirtschaftsleistung nach einer neuen Studie um umgerechnet rund 160 Milliarden Euro im Jahr. Allerdings: Für eine Rückkehr in die EU, den Exit vom Brexit, gibt es in Umfragen bisher keine Mehrheit. „Die politischen Wunden, die der Brexit-Prozess in Politikbetrieb und Bevölkerung gerissen hat, sitzen tief“, erläutert Onderza. Daran will vorerst keine der beiden großen Parteien rühren.
Das hat Folgen für die Wahlkampagne von Labour: Spitzenkandidat Starmer hat zwar als „Remainer“ für den Verbleib in der EU gekämpft. Aber im Wahlkampf sagt er: „Wir haben die Entscheidung getroffen, die EU zu verlassen, also werden wir nicht wieder eintreten“. Es steht zu viel auf dem Spiel: Gerade in den traditionellen Labour-Wahlkreisen in den Midlands und im Norden Englands war Ex-Premier Boris Johnson mit seiner Brexit-Kampagne besonders erfolgreich – diese Wahlkreise muss Starmer erstmal wieder zurückgewinnen. Seine Devise ist daher: Der Brexit soll besser funktionieren, nicht beendet werden. Das von Johnson ausgehandelte Handelsabkommen mit der EU sei schlecht, sagt Starmer, er werde daher „im Lauf von 2025 versuchen, einen deutlich besseren Deal für Großbritannien zu bekommen.“
Fünf Jahre nach Abschluss des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen EU und Vereinigtem Königreich ist 2026 vertragsgemäß ohnehin eine Überprüfung der Vereinbarung fällig. Starmers Ziel: Lockerung der aufwendigen und teuren Grenzkontrollen für Tiere und Lebensmittel, bessere Handelsregeln, Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Einfach wird das nicht. Führende Beamte in der EU-Kommission zeigen sich zwar erleichtert über die Aussicht, dass nach acht Jahren starker Spannungen mit wechselnden Tory-Premiers in London ein neuer, freundlicher und konstruktiver Ton angeschlagen werden dürfte.
Großbritannien hat die Europäishe Union verlassen, doch inzwischen hält die Mehrheit der Briten den Brexit für einen Fehler. © Stefan Rousseau/PA Wire/dpa | Unbekannt|Großbritannien hat die Europäishe Union verlassen, doch inzwischen hält die Mehrheit der Briten den Brexit für einen Fehler. © Stefan Rousseau/PA Wire/dpa | Unbekannt
Aber grundlegende Änderungen am Handels- und Kooperationsabkommen sind nicht in Brüssels Sinn, solange die Briten nicht in die Zollunion und den Binnenmarkt zurückkehren wollen – was Starmer bisher ausschließt. Die Erleichterungen für Landwirte will die Kommission nach vorläufigem Stand nur durchwinken, wenn London bereit ist, die Aufsicht des Europäischen Gerichtshofs zu akzeptieren. „Das ist für uns die Bedingung für ein solches Abkommen“, sagt ein hoher Beamter der Kommission unserer Redaktion. Bliebe es allein bei diesem Vorhaben, wäre eine Annäherung ein kompliziertes Projekt.
EU und Großbritannien wollen verstärkt zusammenarbeiten
Doch längst wird in Brüssel und London an einer neuen Brücke gebaut: Einer verstärkten Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Gedacht ist an die Schaffung eines strukturierten Abkommens mit regelmäßigen Treffen und Kontakten auf offizieller Ebene, Labour spricht schon von einer „neuen geopolitischen Partnerschaft“. Auf den ersten Blick sind der Ukraine-Krieg und der mögliche Wahlsieg Donald Trumps in den USA die Stützpfeiler der Annäherung.
Ein Schulterschluss bei Rüstungsbeschaffung oder Waffenlieferungen an die Ukraine sind naheliegende Themen. Schatten-Außenminister Lammy wirbt aber auch schon dafür, den Sicherheitsbegriff weit zu fassen. Das heißt: Es ginge nicht nur ums Militär, sondern auch um Energie, Klimaschutz, KI-Regulierung, Cybersicherheit und Gesundheitspolitik. In der Außen- und Sicherheitspolitik dürfte der politische Spielraum für die nächste britische Regierung besonders groß sein, sagt Brexit-Experte Onderza. „Auf der anderen Seite ist auch das Interesse der EU besonders hoch, London hier einzubinden.“
Der Ukraine-Krieg wäre ein zentraler Grund für einen neuen Sicherheitspakt zwischen Großbritannien und der EU. © Evgeniy Maloletka/AP | Unbekannt|Der Ukraine-Krieg wäre ein zentraler Grund für einen neuen Sicherheitspakt zwischen Großbritannien und der EU. © Evgeniy Maloletka/AP | Unbekannt
Die engere Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik könne „ein positives Zeichen im gegenseitigen Interesse setzen und zudem mittelfristig Spielräume für eine engere Kooperation auf weiteren Feldern eröffnen.“ Bis hin zu einer Rückkehr in die EU? Onderza sieht eine Revision des Brexit mittelfristig nicht, es gehe eher um politische Annäherung und eine bessere Koordination. Aber: In Großbritannien setzen EU-Befürworter durchaus darauf, dass die erwartete Kooperation den Weg öffnet zurück in die Europäische Union. „Jeder versteht, warum Labour vorsichtig ist im Wahlkampf“, sagt der Chef der European Movement UK, Mike Galsworthy, der den Brexit rückabwickeln will. „Aber einmal an der Regierung, ändert sich die Verantwortung für die Bürger und das Land. Labour kann dann nicht einfach ignorieren, dass ein proeuropäisches Lager sie an die Macht gebracht hat.“ Eine Rückkehr in die EU, meint Galsworthy, sei unvermeidlich.
Die Eiszeit ist vorüber
Noch gibt es aus Brüssel eher zurückhaltende Signale: Die EU habe inzwischen zahlreiche neue Baustellen, der Brexit sei derzeit gar kein Thema, heißt es in der Führungsebene der Kommission. Aber das könnte sich ändern: Sollte Frankreichs Europakurs nach einem Wahlsieg Marine Le Pens ins Schlingern geraten, könnte eine Annäherung an Großbritannien plötzlich auch für die EU wieder attraktiver erscheinen. Die geplante EU-Erweiterung um die Ukraine, Moldau und die Westbalkan-Staaten befeuert zudem alte Überlegungen, in der Union unterschiedliche Geschwindigkeiten zu akzeptieren – einen engeren Kern von Mitgliedern, die stärkere Integration wollen, und drumherum eine Gruppe, die etwas weniger ehrgeizig ist. Das könnte eine Rückkehr für Großbritannien erleichtern.
Sollte Keir Starmer wie von Demoskopen vorausgesagt die Unterhauswahl gewinnen, dürfte er schon zwei Wochen später Gastgeber eines großen Europa-Gipfels sein. © AFP | Dominic Lipinski|Sollte Keir Starmer wie von Demoskopen vorausgesagt die Unterhauswahl gewinnen, dürfte er schon zwei Wochen später Gastgeber eines großen Europa-Gipfels sein. © AFP | Dominic Lipinski
Wie die Dinge stehen, kann der mutmaßliche Wahlsieger Starmer wohl zwei Wochen nach der Unterhauswahl persönlich sondieren: Am 18. Juli dürfte er als frisch ernannter Premierminister Gastgeber sein für das nächste Gipfeltreffen der vor zwei Jahren gegründeten Europäischen Politischen Gemeinschaft: Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten, der acht potenziellen Beitrittsländer und einiger Nachbarstaaten kommen dann im Blenheim Palace, dem Geburtshaus Winston Churchills in der Nähe von Oxford, zusammen. Eine glückliche Fügung für den Proeuropäer Starmer, es könnte keine bessere Gelegenheit geben, um zügig den Klimawandel in den Beziehungen zwischen London und Brüssel zu besiegeln: Die Eiszeit ist vorüber, die Zeichen stehen auf Annäherung – mindestens.